Unsichtbar zu sein, ist eine Traumfabrik-Idee mit Albtraum-Potenzial. Der ARD-Kobold „Pumuckl“ zum Beispiel war 1982 dank dieser Fähigkeit zwar nur für Meister Eder zu sehen und damit Anlass drolliger Verwicklungen, während Harry Potter mithilfe eines Röntgenumhangs allerlei Gefahren meisterte. Seit H.G. Wells‘ Schauerroman „The Invisible Man“ aber (ausgerechnet) 1933 zum ersten (nicht letzten) Mal adaptiert wurde, verbreitet abnorme Transparenz trotz lustiger Spielarten wie „Ghost Dad“ auf Leinwand und Bildschirm eher Schrecken als Freude. Wer will schon komplett übersehen werden?

Ayoub Griyeb (Roda Fawaz) jedenfalls nicht. Schließlich hat der überforderte Lehrer auch so schon genug Probleme. Auf dem Schulhof kursiert das unfreiwillig gefilmte Fellatio-Video einer Schülerin, mit deren Mutter er bekannt ist. Seine psychisch labile Frau lässt Familie und Haus verwahrlosen. Weil sie den gemeinsamen Sohn verletzt, will das Jugendamt die Obhut übernehmen. Und just, als es Ayoub die Hiobsbotschaft übermittelt, beginnt er zu verschwinden – also nicht im übertragenen Sinne, sondern real. So real zumindest, wie in einer Mystery-Serie möglich.

Denn über acht Teile hinweg kann das ZDFneo-Publikum ab heute zusehen, wie sich auch andere Bewohner der belgischen Kleinstadt Creux buchstäblich in Luft auf- und damit diverse Katastrophen auslösen. Der Augenarzt Victor (Luc van Grunderbeek) etwa erblindet bei einer Routine-OP durch seine Tochter Laurence (Myriem Akheddiou), als sich der Laser wie von Geisterhand bewegt. Auf der Heimfahrt läuft ihnen ein Mann vors Auto, der ebenso plötzlich wieder weg ist. Bevor Ayoub seine Form verliert, reißt Victors Enkelin Lily (Elisa Echevarria) wegen des erwähnten Sex-Films aus und landet bei der unsichtbaren Angèle (Jacqueline Bollen), die wiederum irgendwie mit der fatalen Netzhautoperation zu tun hat.

Alles sehr seltsam, alles eher düster, alles schwer ergründlich, also alles, nun ja: ganz schön belgisch. Im fragilen Zentralmassiv der EU nämlich entstehen zurzeit Fiktionen von einer Rätselhaftigkeit, die Fragen aufwirft. Zum Beispiel jene, warum eine Filmnation von halber Größe Bayerns so verstörend gutes, gut verstörendes Fernsehen kreiert. Egal ob „Zimmer 108“ oder „Tabula Rasa“, „Unit 42“ oder „The Break“, „Code 37“ oder „Undercover“ – Provinz-Thriller made in Belgium lösen Scandi Noir als Blaupause menschlicher Niedertracht gerade ein wenig ab.

Mit dem Ort alter Stammeskonflikte, islamistischer Terrorzellen, betrunkener Fressgelage, organisierter Kinderschänder und blutiger Schlachten vieler Kriege hat das zwar nur am Rande zu tun; serielle Fiktionen, sagt die Hamburger Medienforscherin Joan Bleicher, bilden schließlich „kulturübergreifende, grundlegende, glokale Erzählformen“ jenseits regionaler Besonderheiten. Dennoch reagieren sie „sowohl auf Ereignisse der Vergangenheit als auch auf die Gegenwart“. Oder um es mit dem Fernsehkritiker Dietrich Leder auszudrücken: „Soziale und kulturelle Erfahrungen einer Gesellschaft, die sich in Schichten, Klassen, Herkünfte und sexuelle Präferenzen differenziert, prägen selbstverständlich auch die Art, wie etwa in Kriminalfilmen und -serien erzählt wird.“

Auf Belgien bezogen hieße das: seit der Missbrauchsring des Vergewaltigers Dutroux vor 25 Jahren Kollaborateure bis an die Spitzen von Polizei und Politik offenlegte, traut man dem Land der 100.000 Autobahnlaternen fast jede Schandtat im Schatten zivilisierter Gepflogenheiten zu. Nach Drehbüchern seiner Frau Marie hatte Regisseur Geoffrey Enthoven daher totale Narrenfreiheit bei der Verkettung bizarrer Ereignisse – und er hat sie ausgiebig genutzt. Die widernatürliche Transparenz, deren Ursache womöglich mit Funkmasten oder Medizinexperimenten zu tun hat, wird nämlich so aberwitzig untermalt, dass sie selbst für Belgien leicht drüber wirkt. So laufen Unsichtbare meistens nackt durchs Blickfeld der Sichtbaren, die schon mal im Kofferraum schlafen oder dank tückischer Augenleiden nur Taucherbrille tragen. Dabei könnten derlei Absonderlichkeiten auch andere als Mystery-Gründe haben.

Was nämlich, wenn sehen und (nicht) gesehen werden weniger physikalisch als metaphorisch gemeint ist? Was, wenn die Charaktere also gar nicht transparent sind? Was, wenn deren Unsichtbarkeit nur zum Ausdruck bringen soll, wie beobachtet oder ignoriert sie sich fühlen? Der entnervte Ayoub etwa wünscht sich ja nichts mehr, als dem Alltag einer cholerischen Frau zu entkommen, während die digital gemobbte Lily im Sperrfeuer (a)sozialer Medien bald Gefallen an der optischen Inexistenz von Angèles findet, die auch deshalb Zuflucht bei Victor sucht, weil Blinde wie er niemanden sehen. „Bei ihm fühle ich mich sichtbar“ sagt sie und spricht damit all jenen aus der Seele, die es wirklich sind und doch ignoriert werden.

Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel, mit denen „Unseen“ mehrheitlich besetzt wurde. Wann immer die Protagonisten von Unsichtbarkeit betroffen sind, geht es untergründig auch um den Kontroll- und Selbstdarstellungswahn ringsum. Schon vor zehn Jahren schätzten belgische Datenschützer den offiziellen Bestand an öffentlichen Überwachungskameras auf mindestens 200.000 Stück; eine Zahl, die sich seither vervielfacht haben dürfte. Für die einen ist „Unseen“ somit ein stiller Schrei nach Intimität, für andere ein lauter Appell, Menschen wahrzunehmen, statt zu beobachten. Für den Rest ist es einfach nur eine sehr, sehr gute Fernsehserie.

ZDFneo zeigt alle acht Folgen ab dem heutigen Freitag, 23:45 Uhr am Stück. Wer sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen will, findet alle Folgen danach auch in der ZDF-Mediathek.