Keine andere Sendung im deutschen Fernsehen ist in der Vergangenheit so sehr mit Dieter Bohlen in Verbindung gebracht worden wie "Deutschland sucht den Superstar" ("DSDS"). Der selbsternannte Pop-Titan führte das Format in ungeahnte Höhen, war aber auch für die schlimmsten Zurschaustellungen von Kandidatinnen und Kandidaten verantwortlich. Was Bohlen sagte, war lange Gesetz bei "DSDS". Nachdem sich RTL von Bohlen trennte, war es eine der spannendsten Fragen: Wie werden RTL und UFA Show & Factual das Loch füllen, dass der Chef-Juror hinterlassen hat? Beim "Supertalent" ist das überhaupt nicht gelungen, bei "DSDS" könnte die Sache anders aussehen. 

Zum Start in die neue Staffel machte das runderneuerte "DSDS" eine gute Figur, was man nicht zuletzt der Jury zu verdanken hat. Hier lag der öffentliche Fokus zuletzt fast ausschließlich auf Florian Silbereisen, der nach der ARD und dem ZDF nun auch beim Privatfernsehen andockt. Er ist der große Name, der die Menschen anziehen soll. Mit der Zeit zeigte sich aber: Auch Toby Gad und Ilse DeLange liefern ab, das Trio funktioniert vor allem gemeinsam gut. Das Jury-Team musiziert gemeinsam, hat sichtlich Spaß bei der Arbeit und liegt sich nach der Performance einer Kandidatin freudestrahlend in den Armen. 

Es ist ein völlig anderes Bild als das, was Dieter Bohlen in den letzten Jahren bei "DSDS" produziert hat. Bislang gab es im RTL-Dauerbrenner den Jury-Chef, dann lange gar nichts und danach kamen irgendwelche anderen Juroren. Die Hackordnung war immer klar und Bohlen ließ seine Kollegen nicht selten wissen, wo ihre Stellung im Format war (im Zweifel: unter ihm). 2022 ist das anders. Silbereisen ist zwar in der Öffentlichkeit der größte Name, vor allem aber Gad hat eine beeindruckende Vita vorzuweisen, hat er doch schon mit Beyoncé, John Legend oder auch Demi Lovato zusammengearbeitet. 

Beyoncé & Co.: Einer kennt sie alle

Wer das bislang noch nicht wusste, muss sich aber keine Sorgen machen: RTL und UFA Show & Factual gehen auf Nummer sicher und erklären gleich mehrmals, was für ein musikalisches Schwergewicht Gad ist. Ein bisschen ulkig ist es schon, wie der immer wieder erzählt, für wen er schon gearbeitet hat und wen er alles kennt. Jede Kandidatin, die einen Song von Beyoncé singt (und zum Start sind es EINIGE!) bekommt zu hören, wie das damals war, als er mit ihr im Tonstudio stand. Und Nicole Scherzinger? Das sei eine seiner guten Freundinnen, so Gad. Später gibt der Musikproduzent noch zu Protokoll, dass er nicht wisse, was eine Polonäse sei, was seine beiden Kollegen dazu bringt, ihm das erst einmal zu zeigen. (Spoiler: Er bekommt es zu einem Silbereisen-Song ziemlich gut hin!)

DSDS 2022 © RTL / Stefan Gregorowius Auch ohne Vorkenntnisse absolviert Toby Gad die Polonäse fehlerfrei. Die gute Laune in der Jury spürt man.

Schon die erste "DSDS"-Ausgabe 2022 zeigt: Die Zeit des Alpha-Jurors ist vorbei. Das gleiche kann man auch über die musikalischen Kuriositäten sagen, die bislang immer einen festen Platz in der RTL-Castingshow hatten. Streng genommen waren die weniger begabten Kandidatinnen und Kandidaten immer der wichtigste Teil der Castingphase. Das hat sich durch den Neustart völlig geändert. Es gibt immer noch Sängerinnen und Sänger, die besser etwas anderes machen sollen, sie sind aber in der Unterzahl und werden dann auch schnell und ohne großes Aufsehen abgefrühstückt. Vorbei ist die Zeit, in der die Jury minutenlang über eine schlechte Performance herzog und die Kandidaten so der Lächerlichkeit preisgab. Als eine weniger begabte Kandidatin nicht weiter kommt, zollt ihr der Off-Sprecher sogar "Respekt" und viele Zuschauenden dürften sich fragen: Ist das noch mein "DSDS"? In diesem Aspekt kommt RTL seinem Ziel schon ziemlich nah: Familienunterhaltung ohne böses Blut. 

"DSDS" verändert sich radikal

"Bei ‘DSDS’ zählt nur das Talent", heißt es irgendwann im Laufe der ersten Folge. Es ist eine klare Ansage, dass die Macherinnen und Macher weg wollen vom Schmuddelimage. Bleibt die Frage, ob die Zuschauerinnen und Zuschauer das goutieren. Die Nische ist mit "The Voice" jedenfalls schon stark besetzt - und auch an dieser Show nagt der Zahn der Zeit. Auch die ganzen Bohlen-Fans wird man mit der Neuausrichtung vergrätzen. Das neue "DSDS" wird sicherlich kein Selbstläufer: Zu lange hat man die Menschen vor den TV-Geräten konditioniert. Sie haben gelernt, dass es weniger um Musik und mehr um skurrile Menschen geht, die versuchen zu singen. Dieses Verständnis zu drehen, wird eine Mammutaufgabe in den kommenden Wochen. Nicht umsonst hat Florian Silbereisen seinen Job als den "gefährlichsten Schleudersitz Deutschlands" bezeichnet. 

Recall-Prozess merklich gestrafft

Die Voraussetzungen könnten aber schlechter sein. Anders als beim abgeschmierten "Supertalent" ist die Jury von Beginn an eingespielt und wird, auch das ist ganz wichtig, die ganze Zeit über nicht verändert. Ebenfalls eine gute Neuerung: Am Ende des ersten Castings absolvieren die neun Sängerinnen und Sänger, die es geschafft haben, einen Recall im Schnelldurchlauf. Innerhalb von zehn Minuten sieben Silbereisen, Gad und DeLange noch einmal aus und straffen so den früher sehr zähen Recall-Prozess. Nach den Castings geht es für 25 Kandidatinnen und Kandidaten zum Auslandsrecall, danach warten die Liveshows, von denen es 2022 übrigens wieder mehr geben wird (DWDL.de berichtete). 

Dieter Bohlen dürfte am RTL-Programm des 22. Januars jedenfalls nur wenig Spaß haben. Dafür sorgt nicht nur die Tatsache, dass "DSDS" auch ohne den Pop-Titan wunderbar funktioniert. Die Produktion hat auch gleich zu Beginn einen netten Seitenhieb gegen Bohlen eingebaut. So zeigte man Ausschnitte eines Musikvideos von Florian Silbereisen und Thomas Anders, die in letzter Zeit das ein oder andere Mal miteinander musizierten. Dort, wo lange Bohlen das Sagen hatte, sah man nun also plötzlich Thomas Anders. Und das neben Bohlen-Nachfolger Silbereisen. Und als nach "DSDS" der Dschungel begann, war dann auch Bohlens Ex-Affäre Janina Youssefian zu sehen. 

Das alles wäre noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen. Es war eine Zeit, in der Dieter Bohlen "DSDS" und irgendwie auch RTL fest im Griff hatte. Das ist glücklicherweise vorbei. Man kann nur hoffen, dass es der Musik-Castingshow besser ergeht als dem "Supertalent". Nach Folge eins gibt es aber eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln.