Die Wahrheit – welch ein edles, kontroverses, mächtiges Wort. Der Duden definiert Wahrheit nüchtern als „Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird“, vergisst aber, dass dieser Bund fürs Leben einen Plural gebiert, den Marie von Ebner-Eschenbach „Wahrheiten“ nennt: verleugnete Kinder, die ihre Mutter so schwächen, dass sie aus Sicht des wahrheitssuchenden Bertolt Brecht „zum Angriff übergehen“ müsse.
Nun liest Anis Mohamed Youssef Ferchichi wahrscheinlich selten deutsche Klassiker. Doch weil er nun mal Rapper ist, dessen japanischer Kampfname „Weg des Kriegers“ bedeutet, ignoriert Bushido Martin Luthers spätmittelalterlichen Appell, „die Wahrheit macht nicht viele Worte“, und hält es mit Brechts Abteilung Attacke. So erleben wir Deutschlands dienstältesten HipHop-Gangsta ab heute sechs Teile lang als redseliges Sturmfeuergewehr der eigenen, also „Bushido’s Wahrheit“, wie Amazon Prime sein Porträt mit Deppen-Apostroph untertitelt. Obertitel: „Unzensiert“.
Der staatspolitische Begriff „Zensur“ ist bei einer freiwilligen Selbstauskunft wie dieser zwar so absurd wie der rechtsphilosophische Begriff „Wahrheit“. Aber weil die Titelfigur beides für sich reklamiert, kann man dem fünfstündigen Filmporträt durchaus auf den Grund gehen. Zumal sich gleich zu Beginn von Bushidos Wahrheit Unerwartetes ereignet: der Titelheld heult, und zwar nicht aus Rührung übers siebte Kind oder achte Nr.-1-Album; das dürften selbst die härtesten Krieger im Sprechgesang. Nein: der hier heult, weil er nicht nur Schwäche zeigt, sondern drüber redet.
Ein paar Jahre nämlich, nachdem der Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Schöneberg 2003 zum Aushängeschild des Ghetto-Labels Aggro Berlin und nach Gründung seiner eigenen Plattenfirma auch bundesweit berühmt geworden war, verbrüderte sich der Stern am HipHop-Himmel mit der dunklen Seite der Macht: Arafat Abou-Chaker. Ein toxisches, aber werbewirksames Duett. Hier der tunesisch-deutsche Rapper, dort der libanesisch-deutsche Clan-Chef, dazwischen eine deutsch-deutsche Boulevardpresse, die nie genug bekam vom klein- bis großkriminellen Paar. Kein Wunder, dass Peter Rossberg nun die Mikros auf Bushido richtet.
Der selbstverliebte Gossenreporter arbeitet schließlich nicht nur bei „Bild“, er gehört zum erweiterten Freundeskreis des Porträtierten. Und das kreiert ein filmisches Hybrid der bizarren Art. Einerseits kommt Rossberg seinem Buddy näher als andere, nun ja, „Journalisten“ zuvor. Andererseits lässt er ihm dabei ohne lästiges Nachhaken alle Freiheiten zur Selbstdarstellung. Und sie geht so: Nach einem Rückblick auf Bushidos Aufstieg, fällt der Millionär aufs „krankeste Arschloch“ rein, wie er seinen Ex-Kumpel nennt oder in den Worten Anna-Maria Ferchichis: „Arafat Abu-Chaker ist das Böse“.
Anfangs die dicksten, boulevardtauglich inszenierten Freunde, sei ein Gartenzaunstreit der beiden 2017 so eskaliert, dass Bushidos Familie erst Morddrohungen, dann Todesängste, zuletzt Polizeischutz bekam. Volles Mafiaprogramm also, True Crime mit Promifaktor, reinstes Click-Gold mit Thrill-Faktor, das Kameramann Richard Przozowski virtuos in düster vertonte Bilder packt. Hier hätte man gerne die Gegenseite gehört: Arafat Abou-Chaker, zwielichtige Wichsvorlage der blutschweißtränenfeuchten Hauptstadtpresse schlechthin. Aber der, so heißt es bereits im Vorspann, wolle sich nicht äußern.
Komisch. Aber für ein „Bild“-Gewächs wie Rossberg, das Ausgewogenheit weniger interessiert als Punchlines, kein Problem. So begleiten wir die Ferchichis ohne Gegenposition beim Lieben, Leiden, Lachen, Reichsein. Bushido mit halstätowierten Rap-Kollegen und silikongefülltem Anhang am 40. Geburtstag. Bushido mit umsorgten Kindern und besorgter Gattin auf Thailand-Reise. Bushido mit riesiger Entourage und japanischen Fans beim Videodreh in Ostasien. Bushido mit krassem SUV und krasseren Kumpels in Ostberlin. Bushido, lehren uns die Schlüssellochblicke ins Leben eines Superstars, mag nicht der beste Rapper sein, ein guter Selbstvermarkter ist er allemal. Und dafür gibt er alles preis – sogar die Identität seiner vier Töchter und Söhne, denen die Kamera stets voll ins Gesicht filmen darf, als seien es süße Accessoires im Bling-Bling-Reich der Plasma-Bildschirme und Infinity-Pools.
Um „Bushido’s Wahrheit“ nicht misszuverstehen: der unzensierte Antiheld zeigt darin Seiten, die viele kaum an ihm erwartet hätten. Anis Ferchichi ist ein zärtlicher Familienvater, geschäftstüchtiger Labelbetreiber, eloquenter Geschichtenerzähler, gar reflektierendes Alphatier mit Migrationsvordergrund, das anders als viele Artgenossen vor aller Welt einräumt, sein Leben sei „lange zu scheiße“ gewesen, um die Wohnung einzurichten. Nur: als Dekoartikel holt er sodann goldene Schallplatten oder den bizarren Bambi für Integration aus dem Umzugskarton und beseitigt damit alle Zweifel am Marketingfaktor der Serie.
So sehr man „Unzensiert“ also als Katharsis deuten möchte, die der Schmerzensmann im Beobachtungszeitraum ab April 2018 erlitten habe, so offenkundig ist, dass er mithilfe der „Bild“ und Zeitzeugen vom LKA-Beamten bis zum Sicherheitsexperten Reklame fürs nächste Nr.1-Album kriegt. Diese Art PR-Entertainment erheben Amazons Liebesdienste wie „Behind the Legend“ FC Bayern und „Schw31ns7eiger“ gerade zum Ersatz journalistischer Tiefenrecherche. Davon unabhängig gewährt der Sechsteiler zwar tiefe Einblicke in die männermächtige Musikindustrie. Nur eins sollte man von „Bushido’s Wahrheit“ nicht erwarten: Die Wahrheit.
"Unzensiert - Bushido's Wahrheit" steht ab sofort bei Amazon Prime Video zum Abruf bereit.