Offene Aufrichtigkeit mag verlogenem Taktgefühl ethisch überlegen sein. Aber wenn das Leben jemanden so ersichtlich zeichnet wie Dr. Schlesinger, wäre es wohl rücksichtsvoller, ihn nicht auch noch dauernd darauf hinzuweisen. „Sie sehen schrecklich aus“, kriegt der Anwalt dennoch vom Richter zu hören, der ihn betrunken, müde, überarbeitet zum Notdienst ins Gefängnis ruft, um eine Tatverdächtige zu vertreten – nur damit die ihm tags drauf mit den Worten begrüßt, er sähe – genau: schrecklich aus.
In der Tat. Denn kurz zuvor wurde der spielsüchtige Trinker übelst verprügelt. Und so grundiert sein kaputtes Gesicht auch optisch ein Streaming-Format, in dem vieles von außen betrachtet schrecklich aussieht, am Ende aber nicht halb so schrecklich ist wie das, was unter der Oberfläche lauert. Schließlich handelt „Glauben“ von einem realen Missbrauchsskandal, und schon der Name des Autors deutet an, in welche menschlichen Abgründe die Serie ab Donnerstag bei RTL+ führt: Ferdinand von Schirach.
Seit seiner Kurzgeschichtensammlung „Verbrechen“ vor zwölf Jahren macht der leibhaftige Berufskollege des fiktiven Strafverteidigers anwaltliche Tatsachenberichte zu originellen Justizthrillern. Bei RTL+ nun rollt der Enkel des schrecklichsten Kinderschänders überhaupt die „Wormser Prozesse“ gegen einen Ring angeblicher Päderasten auf. Zwei Dutzend Bewohner der Nibelungenstadt sollen Anfang der Neunziger reihenweise Minderjährige vergewaltigt haben. Ein gefundenes Fressen für publizistische Triebtäter der untersten „Bild“-Schublade, die sich schon vorm ersten dreier Gerichtsverfahren einig waren: alle schuldig!
Auch Regisseur Daniel Prochaska scheint in der ersten von 210 Minuten ein Urteil zu fällen: nachdem die Kamera übers sonnige Fachwerkstädtchen Ottern fliegt, taucht er es beim örtlichen Kinderarzt Dr. Ließen (Falk Rockstroh) in vormodernes Dunkel. Mit Fachbegriffen von Hymenalöffnung bis Anusspreizung diagnostiziert er einer Sechsjährigen brutale Verletzungen im Genitalbereich und diktiert, „es handelt sich jenseits medizinischen Zweifels um einen Zustand von chronischem sexuell penetrierendem Missbrauch“. Fall gelöst?
Fall erschaffen!
Abends nämlich verteilt Ließens Assistentin den (wie sich bald erweist) falschen Befund auf ihre sozialen Netzwerke, die dank der Handlungsverlagerung ins Smartphone-Zeitalter Sekunden darauf am Bildschirm explodieren, bis der erste Kommentar „Todesstrafe“ ruft. Realisiert vom geübten Schirach-Produzenten Oliver Berben zweigt die Serie also frühzeitig vom Gleis der historischen Rekonstruktion offiziell angeklagter Verbrechen zum Standgericht digitaler Filterblasen ab, vor dem sich Fake und Fakten mit Hass und Hetze zum kommunikativen Giftgebräu unserer Tage verbinden.
Zuvor allerdings biegt der Zug kurz auf die Nebenstrecke von Dr. Schlesingers Nachteinsatz ab, der scheinbar nichts mit Ottern alias Worms alias Monschau zu tun hat. Doch weil das fachlich brillante Wrack seine Mandantin trotz erdrückender Beweise vorm Gefängnis bewahrt, verschafft ihm ausgerechnet jene Auftragskillerin, die ihn anfangs verdroschen hatte, den nächsten Auftrag: er soll einen der Angeklagten im Missbrauchsprozess raushauen.
Mit dem schwarzgekleideten Todesengel Azra (Narges Rashidi) zieht der gramgebeutelte Anwalt (Peter Kurth) fortan aufs Schlachtfeld eines Justizskandals mit dem geifernden Staatsanwalt (Sebastian Urzendowsky) und seiner eifernden Hauptbelastungszeugin (Katharina Marie Schubert), in deren Kinderschutzverein alle Opfer ihre Falschaussagen getätigt haben. So steuert das Drama sieben Teile à 30 Minuten auf ein vorhersehbares, weil verbürgtes Finale zu, das staubtrockene Prozessabläufe zu fesselnder Serienunterhaltung macht.
Wie immer bei Schirach verliert sich auch diese Adaption genüsslich in minutenlanger Detailkunde ballistischer, juristischer, medizinischer, moralischer Expertisen. Wie immer bei Schirach ist die Kulisse artifizieller Art-Deko-Paläste dabei weit von der Wirklichkeit deutscher Mittelstädte entfernt. Wie immer bei Schirach klingt fast jeder Satz, als führe nicht Daniel Prochaska, sondern Gustaf Gründgens Regie. Wie immer ist Schirachs neue Realitätsfiktion demnach viel zu theatralisch, um Fernsehen zu sein.
Wie immer bei Schirach jedoch hält die funkensprühende Originalität seiner Erzählungen den Spannungsbogen selbst im nüchternen Umfeld ritualisierter Beweisaufnahmeverfahren hoch. So hoch, dass die Holzhammerphilosophien vom Goldfisch, den sich der einsame Wolf Schlesinger beim Gaststar Jasna Fritzi Bauer als Zoohändlerin kauft, bis hin zum halben Dutzend Austern, das seine diabolisch-elegante Nemesis Azra ständig schlürfen muss, nicht nur erträglich, sondern kreativ wirken. Und Peter Kurth, der seinen Berliner Anwalt während der Verhandlung schon mal einnicken lässt, nur um die Anklage im wachen Moment zu zerlegen, könnte man ohnehin ständig dabei zusehen, wie er seine Figuren verkarstet.
In ihrer brodelnden Ruhe erinnern Charaktere wie seiner oder auch Désirée Nosbusch als Kommissarin Laubach entsprechend ans Autorenkino der Siebziger, als jedes Wort, jede Regung, jeder noch so beiläufige Ton gleichermaßen belanglos und bedeutsam war. Trotz aller Klischees steht „Glauben“ folglich in der Tradition von Trotta, Fassbinder, Kluge, Schlöndorff und erzählt uns dabei auch noch so einiges über Lüge, Denunziation, Geltungssucht und Profilneurosen im Zeitalter unablässiger Kommunikation.
"Ferdinand von Schirach: Glauben" steht ab 4. November bei RTL+ komplett zum Abruf bereit. Vox zeigt die Serie am 1. und 8. Dezember jeweils ab 20:15 Uhr auch im Free-TV.