Der Wahlabend 2021 begann eigentlich schon lange vor dem Abend. Viel hilft viel? RTL und Bild legten besonderen Ehrgeiz an den Tag und starteten bereits zur Mittagszeit, als noch die ungeschickte Wahlzettel-Falttechnik von Armin Laschet wahlweise für Kopfschütteln und Erheiterung sorgte, in ihre Berichterstattung. Eine Stunde vor Schließung der Wahllokale waren dann wie gewohnt auch ARD und ZDF auf Sendung. Hier wollen wir einsteigen.
Beide öffentlich-rechtliche Anstalten waren einmal mehr routiniert, aber diesmal mit spürbaren Unterschieden. Hier die ruhige, unaufgeregte ARD, dort das buntere ZDF, das zumindest bei der Gestaltung des Studios auf Größe setzte und dies seinem Publikum dann auch mit ausgiebigen, manchmal in die Bewegung verliebte Fahrten des Kamerakrans ziemlich gerne zeigte. Nun mag die Studio-Optik wie eine Randnotiz erschienen, doch eine Bundestagswahl mit Interesse über Stunden zu verfolgen, regte im Ersten auf Dauer weniger auf als im ZDF, wo hinter der souveränen Bettina Schausten wahllose Vogelperspektiven der Hauptstadt mit Effekten animiert unruhig und ermüdend wirkten.
Das ARD-Wahlstudio dagegen überzeugte durch Kompaktheit und Klarheit - und stellte damit das eigene Personal in den Mittelpunkt, das weitgehend fehlerfrei durch den Abend führte. Sicher, Hauptstadtstudio-Chefin Tina Hassel patzte, als sie Alexander Dobrindt fälschlicherweise zum CSU-Generalsekretär machte. Das machte Ingo Zamperoni dagegen durch gedankenschnelle Interviews wie jenes mit AfD-Politikerin Alice Weidel locker wieder wett. Doch eins nach dem anderen. Vor 18 Uhr erwies sich Jörg Schönenborn im Ersten erneut als Wohltat. Bevor die ersten Prognosen veröffentlicht wurden, bot er eine Einordnung von Prognosen und Hochrechnungen inklusive Verweis darauf, dass die Vielzahl der Wahlstimmen hinten raus für Veränderungen sorgen könnten. In Zeiten von Zweifeln und Kritikern ist Nachvollziehbarkeit ein hohes Gut.
Das genaue Gegenteil gab es drüben bei RTL zu beobachten, ein Sender, der Storytelling eigentlich gut beherrscht. Die spannungsgeladene Bekanntgabe von Ergebnissen ist dort eigentlich eine Spezialität, zumindest an Samstagabenden. Und beim ersten Höhepunkt dieses denkwürdigen Sonntagabends? Da bringt Anchorman Peter Kloeppel es kurz vor 18 Uhr auf den Punkt: Nun komme der Moment, raunt er fidel, fast euphorisch, auf den sich am Wahltag immer alle besonders freuen: Prognosenzeit, Prozentezeit, Balkenzeit, Diagrammzeit, Ergebniszeit. Es ist also Showtime!
Doch was passiert hinterm Chef-Infotainer? Nichts. Anstelle von ersten Prognosen zeigt der Splitscreen erst einmal Livebilder aller Parteizentralen mit Chancen auf den Bundestagseinzug. Statt Klagen, Jubel, Trauer, Applaus sehen wir schweigende Mitglieder. „Deutschland hat ein neues Parlament“, behauptet das Laufband am Bildschirmrand. Während Jörg Schönenborn im Ersten schon saftige Tortendiagramme schneidet, gibt es bei RTL nur trockene Ergebniskrümel, noch dazu mit Sekunden-langer Panne, dass die Union stolze 240 Prozent holt. Spannung, gar Action? Eher Pleiten, Pech und Pannen.
Dabei tat RTL viel, um den Six’o’Clock-Klimax vorzubereiten. Zum Frühstück wird die Amtszeit von Angela Merkel resümiert. Ab Mittag reisen Katja Burkard und Christopher Wittich fünf Stunden durchs Wahlland. Ab 17 Uhr zählten dann Peter Kloeppel und Pinar Atalay den Countdown runter. Dazu einen Titel der Sendung, der nicht länger hätte sein können: „Deine Wahl. Neustart für Deutschland. Die Entscheidung“. Bei RTL war alles etwas lockerer und fiebriger als bei der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz. Mangels eigener Meinungsforschung aber alles auch gerne ein bisschen zu spät.
So lässig der ewige Anchor durch die Sendung führt, so virtuos ihm ARD-Abwerbung Pinar Atalay zur Seite steht, so klug Politik-Ressortleiter Nikolaus Blome in rotweiß gepunkteter Krawatte beide mit feinem Spott füttert, so souverän alle Interviews der unzähligen Fieldreporter mit Namen von Nadine to Roxel bis Martin to Roxel sind: Dass Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Landesparlamente wählen? Wird nach 35 Minuten erwähnt! Dass ein paar Wahllokalen kurz die Stimmzettel ausgehen? Wichtiger als Grafiken zu Wählerwanderung oder Landesverteilung! Dass mit dem SSW Partei Nr. 7 Mandate gewinnt? Wird gar nicht erwähnt, bis ARD und ZDF nach der „Tagesschau“ zur Elefantenrunde laden.
Überzeugender als RTL, aber auch als die öffentlich-rechtliche Konkurrenz vom ZDF, war da die ARD: Insbesondere in der Zeit vor 20 Uhr überzeugte zum Beispiel die Wahl der Gäste. Schon früh sprach Sahra Wagenknecht im Studio über die Fehler der Linken und mit Carla Reemtsma von Fridays for Future und Jungunternehmerin Sarna Röser debattierten zwei junge Frauen leidenschaftlich über ihre unterschiedlichen Vorstellungen von der zukünftigen Politik. Mit ihnen, aber auch Aussagen etwas eines Gastronomen, kamen zwischen den üblichen Floskeln der frühen Wahlabend-Interviews auch Erwartungen aus gesellschaftlichen Blickwinkeln zu Wort. Eine angenehme Auflockerung.
Und immer gegenwärtig: Jörg Schönenborn, der so manches Gespräch mit spannenden Zahlen anreicherte und schon früh auf die Möglichkeit einer Großen Koaltion verwies, über die, so der WDR-Mann, jedoch „keiner spricht“. Den ganzen Abend und über alle Sender hinweg bemerkenswert, wie diese Option scheinbar ausgeschlossen scheint, oft gar nicht thematisiert wird. Schönenborns Makel: Die Zahlen von Infratest-Dimap. Sie lieferten mit der ersten Prognose einen Gleichstand zwischen Union und SPD, ebenso Gleichstand zwischen Grünen und FDP. Drüben beim ZDF und der Forschungsgruppe Wahlen waren schon mit der Prognose der Vorsprung von SPD (vor Union) und FDP (vor der AfD) ablesbar. Erst im Laufe des Abends näherten sich die Hochrechnungen von Infratest-Dimap den Ergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen an.
Den Unterschied um 18 Uhr machte niemand so spannend sichtbar wie Bild: Die inzwischen auch Fernsehen gewordene Medienmarke der Axel Springer SE klaute sich einfach die Sendesignale von ARD und ZDF, zeigte als Bild-im-Bild beide öffentlich-rechtlichen Konkurrenten mit der Erkenntnis: Das ZDF hatte mehr Tempo beim Einblenden der mit Spannung erwarteten Balken. Eingeordnet wurden diese und alle anderen Zahlen von Kai Weise im Stakkato von Bild-Schlagzeilen. Dazu Talk-Runden zum „Kanzler-Krimi“ (auch die spätere Titelzeile für die Zeitung), die „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt beherrschte.
Bei Bild geriet vor 18 Uhr das Chaos in Berliner Wahllokalen ins Visier. Reichelt und Bild-Live-Programmchef Claus Strunz nutzten die Panne, um mit Blick auf das „totale Versagen“ der rot-rot-grünen Stadtregierung vom Start weg einen Ton des Wahlabends zu setzen. Dazu kam ein extra eingerichtetes Bild-Studio vor dem Bundestag zum Einsatz. Dort wurde dem hartnäckig nachfragenden Paul Ronzheimer bei Interviews mit Parteimitgliedern der omnipräsente Thomas Gottschalk zur Seite gestellt. Überraschend hilfreich wirkte die Nonchalance des Langzeit-Entertainers, um das Laute abzupuffern, das Ronzheimer vertrat, und eine persönliche Note ins Politgeplänkel zu bringen. Gottschalk stellte „Hubertus“ Fragen, Ronzheimer musste sich mit „Herrn Heil“ unterhalten.
Weniger laut und routinierter führte die Springer-interne Konkurrenz von Welt durch den Wahlabend. Dort wurde das Rad nicht neu erfunden, aber der Sender lieferte die Zutaten einer soliden Wahlberichterstattung mit schnellen und anschaulichen Hochrechnungen, versierten Interviews und treffsicheren Schalten. Eine gefällige Mischung aus Jung und Alt gelang mit dem Wahlteam im Welt-Studio sowie mit neun zugeschalteten Reportern. Die Moderatorinnen Lena Mosel sowie Tatjana Ohm sorgten für eine betont weibliche Alternative. Selbst als „Altherren“ wie Welt-Herausgeber Stefan Aust ins Spiel kamen: Die pointierten Einordnungen des Ex-Spiegel-Chefredakteurs und Welt-Herausgebers machten die Debatte im Studio rund. Gut, dass in der gesetzten Runde durchaus kontrovers debattiert wurde, etwa in der Frage, ob das Grünen-Ergebnis als Erfolg gewertet werden könne (Aust – ja, Welt-Politikkenner Robin Alexander – nein).
Verleugnen konnte Welt am Wahlabend weder den Eigner Springer noch die Vergangenheit unter der Marke N24: Zur Einordnung eilte Ex-Moderator Michel Friedman ebenso herbei wie „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt oder der ehemalige „Bild“-Vize Béla Anda, der als Sprecher von SPD-Altkanzler Gerhard Schröder selbst Politikerfahrung sammeln konnte. Das Fazit zur Arbeit des Welt-Teams: eingespielt, schnell, mit allen Basics und trotz Springer-Dominanz ein informativer Wahlabend. Die Verwandtschaft mit TV-Frischling Bild Live war zu spüren, wenn Generalsekretäre überkreuz direkt nacheinander interviewt werden. Das war es dann aber schon mit der Nähe der beiden Springer-Nachrichtensender.
Und während um 20:15 Uhr dann ARD und ZDF wie immer ihre „Berliner Runde“ starteten, ein in Fernseh-Deutschland gelerntes Element zur besten Sendezeit für das auch neue Hochrechnungen mal eine Stunde pausieren müssen, hatte RTL seine eigene Runde versammelt. Dort übernahm Frauke Ludowig, die eine Runde mit Hundetrainer Martin Rütter, Lifestyle-Talkerin Laura Karasek und einem YouTuber namens Leeroy Matata begrüßt. Danach werden die Studiogäste zum Teil zwar wieder, nun ja, etwas wahlspezifischer und weisen mit Namen wie der Jungunternehmerin Sarna Röser originelle Perspektiven ab. Eine wirkliche Alternative zur „Berliner Runde“ war das dann doch nicht. Eine sehr angenehme, ruhige Abwechslung hingegen unmittelbar nach der Elefantenrunde bei ARD und ZDF: Der „internationale Spätschoppen“ bei Phoenix.
Launiger und gehaltvoller wurde es bei RTL dann wieder mit Peter Kloeppel, der sich einen Schlagabtausch mit der Impfverweigerin und AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel lieferte, den er leider am Ende unsouverän abbrach. Doch eröffnet war - inzwischen fast vier Stunden nach Schließung der Wahllokale - der Reigen der etwas pointierteren Gespräche, die sich dann doch wohltuend abheben konnten vom Floskel-Gewitter des frühen Abends. Drüben beim ZDF etwa lief Claus Kleber nochmal zur Höchstform auf, interviewte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sehr hartnäckig. Scholz kann nur ganz kurz vor einem Seufzer und Augenrollen gewesen sein angesichts von Klebers Renitenz.
Und bei Bild? Die "Bild"-Wahlzentrale lieferte auch nach 23 Uhr noch mit vier MacBooks und einem iPad allerlei Tweets, Fotos und Stimmungen aus dem Netz, ganz nach dem Motto: "Zeig mir deinen Screen, ich zeig dir meinen.“ Gucken Sie doch mal! Dieser Tweet oder dieses Foto! Fürs Bunte wurden Heino und Katharina Witt mit dem inzwischen ins Springer-Haus umgezogenen Thomas Gottschalk kurzerhand zur „Deutschland-Ruden“ erklärt. Das war belanglos aber auch nicht schlimmer als die sich zu dieser Zeit längst wiederholenden Parolen der Parteipolitiker.
Am Ende eines langen Abends bleibt die Erkenntnis: Wo Bild drauf steht, war auch am Wahlabend Bild drin. Bei der Welt gab es ein grundsolides, eigenständiges Angebot - während Konkurrent ntv über Strecken gleichgeschaltet war mit RTL, wo es in der Berichterstattung nicht an Masse mangelte, in den entscheidenden Momenten aber dann doch leider an Klasse: Ein Fauxpas wie der um 18 Uhr darf nicht passieren. Und im öffentlich-rechtlichen Duell hatte das ZDF die besseren Zahlen, die ARD hingegen das angenehmere Setting für den Abend. Ein kleiner Makel im hektischen Live-Marathon tauchte allerdings, zur allgemeinen Erheiterung, im Laufe des Abends bei allen Sendern irgendwann mal auf: Unpassend plazierte Logos und Schriftzüge, die sich überdeckten. So oft wie an diesem Wahlabenden betont wurde, dass die Parteienlandschaft in Deutschland bunter wird - weil sich vermeintlich große und kleine Parteien der Mitte zunehmend auf Augenhöhe unterhalten, dann gilt auch für die Wahlberichterstattung dieses Abends: Schaden kann die Vielfalt nicht.