Alleinerziehenden, besonders weiblichen, müsste es eigentlich Gold gehen, wie man im Osten so sagt. Erst beim dritten Triell vorigen Sonntag haben sich beide Anwärter aufs Bundeskanzleramt mit ihrer Konkurrentin schließlich wieder mal darin übertroffen, was sie nach der Wahl alles für knapp 1,4 Millionen Betroffene tun. Gut, dafür wäre seit 1949 zwar 19 Legislaturperioden Zeit gewesen. Aber ab heute, jetzt wirklich, also echt mal blüht Müttern ohne Männer das Paradies auf Deutschlands Erden – was natürlich Traumtänzerei ist. Zumindest für alleinerziehende Frauen ohne den unverbrüchlichen Optimismus von Tina Sanftleben.
„Det wird schon allet“, sagt die Mittfünfzigerin mit drei Kindern bei nahezu jeder Gelegenheit, in der nahezu gar nichts wird. Denn wenn die ARD-Serie Tina Mobil am Mittwoch zur besten Sendezeit startet, gibt es praktisch pausenlos Gelegenheiten für nichts, was das Leben unkompliziert machen könnte. Wo Berlin nordwärts Richtung Brandenburg versteppt, fährt die Titelfigur gerade noch Backwaren in abgekoppelte Dörfer aus. Weil sie es mit Disziplin und Terminen nicht so eng sieht, wird ihr allerdings gleich zu Beginn der ersten Folge gekündigt. Fristlos. Und nicht nur das.
Tochter Juli (Fine Sendel) braucht Schulgeld, Sohn Felix (David Ali Rashed) Klassenfahrtzuschuss, Schwester Caro (Runa Greiner) Abnabelungshilfe, und als ihr das Arbeitsamt in Pankow mit dem Standardspruch „tragen-Sie-hier-bitte-Ihre-persönlichen-Daten-ein-Sie-erhalten-von-mir-Ihre-Benutzerkennung-mit-der-Sie-Ihre-Arbeitssuche-so-früh-wie-möglich-online-über-unsere-über-unseren-E-Service-starten-können“ die Verachtung einer sterilen Bürokratie vor den Latz geknallt hat, findet sich Tina bei der lokalen Tafel für kostenlose Lebensmittel wieder. Alles im Eimer also? Da kennt man sie aber schlecht.
Die Frau ist nämlich nicht nur gelernte Bäckereifachverkäuferin, sondern ähnlich versierte Luftschlossarchitektin. Anstatt ihren Kopf in den Sand verblühter Landschaften zu stecken, kauft sie daher ein eigenes Schrippen-Fahrzeug und macht ihrem Ex-Chef Konkurrenz. Soweit der Plan, den dummerweise außerplanmäßig eine Alltagskatastrophe nach der nächsten durchkreuzt. Kaum, dass ein Kind schwanger wird, kriegt das nächste Drogenprobleme, während die Älteste ans Steuer von „Tina Mobil“ muss, weil dessen Namensgeberin den Führerschein verliert und obendrein schwer erkrankt.
Also doch alles im Eimer – sofern es der ostdeutschen Autorin Laila Stieler („Gundermann“) um ein sendeplatztypisches Sozialdrama mit Happyend-Option gegangen wäre. Ging es aber nicht. Unter der Regie des westdeutschen Milieustudienleiters Richard Huber („Club der roten Bänder“) skizziert sie stattdessen ganz gewöhnliches Kleinstadtleben. Ohne Geigen oder Pathos, ohne Tränen und Klischees, ohne falsches Mitleid oder noch falschere Wut erleben wir drei Mittwoche lang in Doppelfolgen die Dauerbaustelle strukturschwacher Regionen, vor allem aber: der Menschen darin.
Echter, glaubhafter, vielfältiger Menschen. Menschen, die wie der Fensterbankdrücker im Bademantel nebenan nur Ein-Wort-Gespräche kennen. Menschen, die wie Belinda (Anne-Kathrin Gummich) „Kanacke“ zur Nachfolgerin ihrer befreundeten Exkollegin sagen, weil man es hier halt so sagt. Menschen, die wie Harry (Alexander Hörbe) ihre Existenz versaufen, aber ausgenüchtert voll Sehnsucht nach Geborgenheit sind. Menschen, die wie seine Exfrau für ihre Kinder im Wohnzimmer schlafen, Frühstücksteebeutel zweitverwerten und dennoch notorisch Zuversicht ausstrahlen. Menschen vor allem wie ihre Darstellerin.
Seit Andreas Dresen sie 2002 in „Halbe Treppe“ zum tragikomischen Shootingstar sozialer Randlagen machte, brilliert Gabriela Maria Schmeide in Dutzenden solcher Plattenbaufilme. Auch hier sorgt sie fast im Alleingang für eine Form fiktionaler Wahrhaftigkeit, die an der Existenz vorgeschriebener Texte zweifeln lässt. „Watt wollnse mir denn verkaufen“, sagt ihr Geschäftspartner in spe, den mit Max Hopp noch so ein Schauspielrealist erster Güte verkörpert. „Nischt“, antwortet Tina im trotzigen Ton ihrer untergebutterten Frohnatur, „ick will watt von Ihnen verkoofen“. Dann wickelt sie den Mann mit der polnischen Tätowierung noch in seiner Heimatsprache ein und irgendwie ist man plötzlich irgendwie körperlich in Brandenburg, in Brandenburg – ist wieder jemand voll in die Allee gegurkt…
Das wirkt wie Rainald Grebes Hassliebeshymne aufs strukturschwache Bundesland im Schatten der Hauptstadt mitunter fast dokumentarisch. Zum Glück jedoch wird die Wirklichkeit verspargelter Land- und totsanierter Ortschaften mit genügend künstlerischer Kreativität angereichert, um das Publikum nach Feierabend nicht durch Sorgenfalten in jeder Szene einzuschüchtern. Dabei nervt Tinas Spandauer Schnauze, die jedes Problem schlagfertig wegberlinert, zwar manchmal ein wenig. Dass ihre Kinder vom selben Vater sind, hätte man der Casting-Agentur ruhig mal sagen können. Auch der nachbarschaftliche Dreiklang aus Nagelstudio, Eckkneipe, Asia-Imbiss ist plakativer als nötig. Die Leute davor indes sind es nur selten.
So erinnert „Tina Mobil“ an Dirk Kummers provinzielles Welttheater „Warten auf’n Bus“ mit einer Prise „Drei Damen vom Grill“, die das Billiglohnsegment schon vor 45 Jahren problembewusst unterhaltsam machte und ihm so den Rücken stärkte. „Wir sind nicht arm“, weist Tina das Angebot zum Verzicht ihrer Liebsten zurück, und nochmals lauter: „Wir sind doch nicht arm, Mann!“ Sind sie auch nicht, nicht an Lebenskraft, Selbstwertgefühl, Beharrungsvermögen und was das Leistungssystem Alleinerziehenden wie ihr noch so auszusaugen versucht. All das macht „Tina Mobil“ zur Tragikomödie der kleinen Triumphe. Nicht unwichtig, in siegloser Zeit.
"Tina Mobil" läuft mittwochs um 20:15 Uhr in Doppelfolgen im Ersten. Alle Folgen stehen auch bereits in der ARD-Mediathek.