Nicht Berlin, Hamburg oder München, sondern Altötting, Gerabronn oder Nüdlingen: Schon die Wahl der Orte, für die am unteren Bildrand das aktuelle Wetter angezeigt wird, macht deutlich: Bild tut alles, um ganz nah dran zu sein an den einfachen Menschen, oder wie man es im Springer-Hochhaus gerne formuliert: Am „Volk“.
Nein, es ist kein gewöhnlicher Sender, der da am Wochenende an den Start gegangen ist. Nach monatelanger Übungsphase im Netz geht Bild jetzt tatsächlich rund um die Uhr an den Start und jeder, der es möchte, kann sich den Kanal ab sofort in sein Wohnzimmer holen. Zum Runterkommen eignet sich der Fernsehsender, der, ähnlich wie das Blatt, mit vielen großen Buchstaben daherkommt, nicht. Schon die Aufmachung mit ihren knallroten Farben scheint in jeder Minute Alarm zu schreien.
So wie auch Chefredakteur Julian Reichelt, der noch am Sonntagabend die von Bild ausgerufene "Kanzler-Nacht" analysierte und schon wenige Stunden später im Studio an der Seite der prominenten Neuzugänge Sandra Kuhn und Thomas Kausch in der fünfstündigen Livestrecke wahlweise "unsere Soldaten" in Kabul würdigt oder aufgeregte Fragen an Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer oder Justizministerin Lambrecht stellt.
Stellenweise wirkt es, als sei Reichelt in der Nacht allenfalls zuhause gewesen, um sein Hemd zu wechseln. "Warum bekommen wir nicht so viel Freiheit wie in England?", will er von der SPD-Politikerin wissen, als es um die Corona-Maßnahmen geht. "Warum keine vollen Pubs, warum keine vollen Stadien?" Und überhaupt: "Wann hören Sie auf, sich in unser Leben einzumischen?" Der minutenlange Fragenhagel - er gibt schon in der TV-Premiere von "Bild Live" einen guten Eindruck davon, was das Publikum künftig zu erwarten hat.
Dann plötzlich: "Breaking News". Eine Münchner Familie sei in Afghanistan von "KSK-Helden" gerettet worden. "Was für ein Segen das ist", sagt Julian Reichelt erleichtert. Wenig später folgt die nächste Eilmeldung. Diesmal geht es wieder um Corona und Gesundheitsminister Spahn, der in einem Tweet erklärte, dass die 50er-Inzidenz "ausgedient" habe. Dass sein Tweet zu diesem Zeitpunkt schon zwei Stunden alt ist, scheint nicht weiter zu stören, ist aber zumindest ein guter Anlass, um den zwischenzeitlich ins Studio geeilten FDP-Chef Christian Lindner dazu zu befragen.
So geht es munter weiter. In einem Moment beschimpft CDU-Generalsekretär Ziemiak den SPD-Kanzlerkandidaten Scholz als politischen Hütchenspieler, im nächsten Moment wird über eine blutige Auseinandersetzung berichtet, in die die Influencerin Georgina Fleur involviert ist. Mal fabuliert Meinungschef Filip Piatov über das "Inzidenz-Regime" der Regierung, dann leitet Detlef Soost plötzlich zu Sit-Ups im Studio an, und im Gespräch mit einem Augenarzt geht es schließlich um die Tatsache, dass Fußball-Trainer Jürgen Klopp neuerdings keine Brille mehr trägt - mitsamt der wichtigen Abschlussfrage: "Ist das eine Kassenleistung?"
Ruhepuls? Fehlanzeige. Das gilt auch für die Promi-Expertin, die zwischendurch minutenlang wild am Touchscreen fummelt, um über die neue Liebe der Witwe von Niki Lauda und die Hochzeit von Kim Gloss zu berichten ("Gucken se mal, ein XXL-Kleid") - und dass auch sie selbst am Wochenende ihr Ja-Wort gegeben hat, bleibt freilich ebenfalls nicht unerwähnt, so oft wie sie ihren Ring in die Kamera streckt.
Das hohe Tempo war bereits am Abend zuvor zu beobachten, als sich Armin Laschet und Olaf Scholz den vermeintlich "richtigen Fragen" stellten, aus deren Antworten Bild im Eiltempo Schlagzeilen produzierte. "Bei der Nationalhymne bekomme ich Gänsehaut" stand dann in großen Lettern zu lesen oder: "Armin Laschet: Mit mir nie wieder Lockdown!".
Ein Duell, das keines ist
Inhaltlich waren die beiden Interviews der sogenannten "Kanzler-Nacht" leider gänzlich zurückliegenden Versäumnisse und aktuellen Schlagzeilen verpflichtet: Afghanistan, Flut, Corona-Pandemie, der bisherige Wahlkampf sowie diese Aussage und jenes Foto. Unmittelbar aufeinander folgend, war beim Gespräch mit Scholz schon erwartbar, zu welchen konkreten Fragen Bild gerne eine Gegenüberstellung zu Laschets Positionen abfragen wird - ganz so, als hätte man ein Duell.
Nach vorne gerichtet gab es fast nur Koalitions- und Personalfragen, kaum Inhaltliches. Diese "Kanzler-Nacht" taugte, wie die Bild-Runde später dann selbst auch analysierte, eher als Charaktertest, aber weniger als inhaltliche Entscheidungshilfe für die Wahl. Das lag natürlich an der Interview-Führung und dem Stil von Bild: Das erklärte Konzept, die Kandidaten mit früheren Aussagen, früheren Aufnahmen und "dem Volk" zu konfrontieren, sorgt automatisch für die Beschäftigung mit dem schon Bekannten.
Dass Annalena Baerbock außen vor gelassen wurde, schien an diesem Abend bei Bild keine große Rolle zu spielen. Beinahe blitzte in der mit sechs Leuten groß besetzten Analyse-Runde nach den beiden Interviews um kurz vor Mitternacht aber tatsächlich so etwas wie Kritik an der eigenen "Kanzler-Nacht" auf. Schade sei es gewesen, dass kaum Inhalte besprochen wurden. Doch Bild-Reporterin Nena Schink bekam kurz vor der Kollegenschelte noch die Kurve: Dass es fast gar nicht um Inhalte gegangen sei, wäre die Schuld der Kandidaten gewesen. Sie hätten sich die Zeit rausboxen können, um für ihre Inhalte zu werben.
Dabei waren sowohl Armin Laschet als auch Olaf Scholz mit dem Stakkato der unzufriedenen Nachfragen von Paul Ronzheimer und Kai Wiese beschäftigt. So erwiesen sich die beiden Kanzlerkandidaten an diesem Sonntag am Ende eher als Wahlhelfer für Bild - was in Paul Ronzheimers letzter Frage an Armin Laschet gipfelte: Bild oder Glotze? Und der Unionskandidat lieferte eine werbewirksame Aussage aus den feuchten Träumen der Boulevard-Macher, die es zeitnah in den Werbetrailer des Senders schaffen dürfte: "Bild ist jetzt auch Glotze".
Ob das Konzept dauerhaft erfolgreich sein kann, bleibt freilich abzuwarten. Das prominente politische Schaulaufen der ersten Tage dürfte in dieser Form schwer aufrechtzuerhalten sein. Umso gespannter darf man sein, ob es den Verantwortlichen gelingt, das zweifellos hohe und bisweilen anstrengende Tempo fortzuführen. Der erste Eindruck aber ist klar: Bild hetzt - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der neue Sender wirkt wie eine mit Speed gefüllte Wundertüte, die fast ausschließlich im Schlagzeilen-Denken verhaftet ist, damit aber die Marke gut ins Fernsehen transportiert. Dass es technisch noch an vielen Stellen hakte, verwundert angesichts der Tatsache, dass nebenan mit Welt vielen Jahren ein Newssender betrieben wird. Doch das dürfte sich mit etwas mehr Routine schon bald legen.
Was wirklich fehlt, ist die Struktur. Man muss sich bei "Bild Live" einlassen auf einen wilden Ritt. Wo gerade noch die harte Politiker-Befragung lief, lauert um die Ecke bereits der "Sparfochs" mit den schönsten Bildern von Zuschauerinnen und Zuschauern, die banale Logos in ihren Rasen mähten. Man muss einiges aushalten, wenn man Bild einschaltet. Allerdings hatte Moderator Thomas Kausch gleich zu Beginn gewarnt: "Legen wir los, wir haben schließlich nur fünf Stunden Zeit."