Aerobic, über Fünfzigjährige erinnern sich bestens, unter Vierzigjährige schon nicht mehr so gut, Aerobic war mal die sportgewordene Quintessenz der Achtzigerjahre. Besonders weibliche Selbstoptimierungsobjekte dieser materialistischen Zeit, schichteten 1981 komplementärfarbige Stretch-Klamotten übereinander, zogen wollene Wadenwärmer kniehoch und machten einer lachenden Workout-Domina zu zeitgenössischem Synthie-Pop fettfressende Tanzchoreografien nach. Aus ästhetischer Sicht war der kurzlebige Fitnesstrend ein Schlag in die Magengrube des kultivierten Geschmacks – also perfekt für Fernsehformate mit Modefimmel.

Auch „Physical“ könnte sich in die stetig anschwellende Zahl bild- und farbgewaltiger Reenactments der stilistisch wohl wirkmächtigsten Kulturepoche am Ende der verebbten Discowelle einreihen. Zum Glück jedoch hat Apple TV+ mit der zehnteiligen Tragikomödie einen etwas anderen Weg als das branchenübliche Kostümfest mit Lovestory gewählt. Getarnt als realsatirische Überzeichnung, schickt Showrunnerin Annie Weisman ihre Crew lieber ins Stahlbad weiblicher Selbstermächtigung der reaktionären Macho-Ära Reagan.

Frauen sind darin zwar ein bisschen gleichberechtigter als ihre geprügelten Mütter, allerdings meistens verheiratet mit Männern, die zwar ein bisschen fortschrittlicher sind als ihre prügelnden Väter, allerdings meistens wie Sheilas Gatte Danny (Rory Scovel): ein profilneurotisches Großmaul auf dem Weg von der akademischen Randfigur ins Rampenlicht der kalifornischen Lokalpolitik. Wahltaktisch auf die beginnende Umweltbewegung konzentriert, behandelt er seine Frau wie eine Dienstbotin und sein Kind als Trophäe gedeihlicher Fortpflanzungsbemühungen.

Wenn Danny Kaffee will (also andauernd), hält er Sheila wortlos die Tasse hin, wenn Danny unwiderstehlich sein möchte (also andauernd), kneift er Sheila in den Hintern, wenn Danny Bestätigung braucht (also andauernd), betankt er Sheila minutenlang mit Proklamationen seiner Einzigartigkeit. Heutzutage nennt man dieses Männerverhalten Mansplaining plus Manspreading. Vor 40 Jahren jedoch war es auch im lässigen San Diego Ausdruck einer misogynen Sexualmoral, der dieses Opfer nur durch Zufall entkommt.

Als Sheila der sehr blonden Schönheit Holly (Della Saba) im schneeweißen Golf-Cabrio nachspioniert, um das Geheimnis ihrer Anziehungskraft zu ergründen, landet sie nämlich in Hollys Aerobic-Kurs und ist fortan süchtig. Süchtig nach der voraussetzungsarmen Chance zur körperlichen Eigenwahrnehmung, vor allem aber: süchtig nach der Gelegenheit, dem Ehegefängnis zu entfliehen. Denn als Sheila herausfindet, dass der erfolglose Filmregisseur Tyler (Lou Taylor Pucci) im Haus des VHS-Händlers Breem (Paul Sparks) heimlich Pornos dreht, erpresst sie ihn und wird so zur Aerobic-Lehrerin in der Tanzschule seiner Freundin.

Eine wunderbar bissige Serie

Klingt nach einer etwas originelleren Coming-of-Age-Story gestresster Hausfrauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit denen das Fernsehen seit „Desperate Housewifes“ Zuschauer(innen) hortet. Doch selbst dabei belässt es Headautorin Annie Weisman (die 2010 ein paar Folgen der legendären ABC-Serie verfasst hatte) nicht – ist Sheila als feministisches Role Model doch völlig fehlinterpretiert. Ein wenig zu schön, aber schauspielerisch herausragend verkörpert vom „Damages“-Star Rose Byron, ist die Hauptfigur kein Schmetterling kurz vorm Verpuppen, sondern eine Art misanthropischer Raupe Nimmersatt, die von Fressattacken gepeinigt einen Weg aus ihrem Dasein sucht und dabei über Leichen geht.

Niemand in dieser wunderbar bissigen Serie behandelt andere Opfer chauvinistischer Herrschaftsstrukturen geringschätziger als Sheila, niemand tritt dabei herzhafter nach unten, niemand guckt dazu leutseliger aus der wohlriechenden Wäsche. Im gut hörbaren Selbstgesprächen kriegt besonders die übergewichtige Greta (Deirdre Friel) jenes Fett weg, dass sich ihre optisch makellose Spielplatzfreundin um jeden Preis abtrainieren möchte. Spätestens bei diesem Wunsch mündet Dr. Jekyll & Mrs. Hyde aus dem Selbstoptimierungszwang einer maximal oberflächlichen Epoche umstandslos in den Selbsthass, den er naturgemäß hervorbringt.

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Do kennzeichnet Sheilas rehäugiger Zynismus, die augenklimpernde Verlogenheit, das liebreizende Vexierbild eines gewalttätigen Gewaltopfers gewissermaßen den analogen Einstieg ins digitale Zeitalter des permanenten Wettbewerbs um die konsensfähigste Optik, dem ein gewisser Mark Zuckerberg 2003 eine Social-Media-Plattform zum äußerlichen Vergleich seiner Kommilitoninnen an der Harvard University programmierte. Sie hieß facemash.com und trieb die gesamte Menschheit peu à peu in einen Krieg der Eindrucksgestaltung, den niemand je gewinnen kann. Schon gar nicht Sheila.

Zu Beginn der zweiten Folge mag sie ihrem Mann demnach zwar öfter mal sein Kind in die Hand drücken oder den hingehaltenen Kaffeebecher ignorieren und damit symbolisch das Ende ihrer klassischen Arbeitsteilung andeuten. Wenn die vermeintliche Sympathieträgerin dabei nach einer glückseligen Aerobic-Einheit laut denkt, „jetzt bin ich wieder irgendeine weiße Schlampe auf ihrem dicken Hintern“, wird deutlich: im Kampf mit den Schuldigen ihrer Minderwertigkeitskomplexe, schlägt sie sich zügig auf deren Seite.

Dass „Physical“ trotzdem so viel dessen verströmt, was im Zuge der #MeToo-Bewegung auch hierzulande „Empowerment“ getauft wurde, liegt daher an all den Schmierlappen in Randlosbrillen und Kunststoffhemden, die Annie Weisman männlich besetzte. Ihnen dabei zuzusehen, an der wachsenden Stärke weiblicher Alphatiere abzuprallen, ist allein schon jede der zehn dreißigminütigen Folgen wert.

"Physical", ab sofort auf Apple TV+