Wenn es stimmt, dass der erste Eindruck zählt, dann grenzt es fast an Überforderung, sich auf einen einzigen ersten Eindruck festzulegen. So viele Versprechen für die nächsten acht Folgen legt "Wild Republic" einem innerhalb weniger Minuten vor: spektakuläre Natur- und Bergaufnahmen; eine Atmosphäre zwischen Abenteuer und Abgrund; physische Gewalt und ungeschönte emotionale Härte; ernsthafte Ambition zum Thema Resozialisierung; starke junge Protagonisten, wie man sie sonst selten im deutschen TV zu sehen bekommt. Reizüberflutung scheint hier Konzept zu sein.
"Wild Republic" will sehr viel. Obwohl es vom Gewollten nicht alles erreicht, stellt es eine wichtige Bereicherung des hiesigen Serienkosmos dar, weil es gleich mehrere Leerstellen hinsichtlich Genres, Sujets und Erzählweisen füllt. Wenn Telekom-TV-Chef Michael Schuld sagt, "gerade in der aktuellen Situation" gewinne die "Weite und Wildnis der Natur in 'Wild Republic' eine ganz besondere Bedeutung", so bringt er das Momentum treffend auf den Punkt. Es ist das bisher beste Original von Magenta TV, auch wenn man sagen muss, dass diese Latte ziemlich niedrig hängt.
Die Geschichte, zu der sich Produktionspraktikant Eric Bouley (heute Produzent bei Handwritten Pictures) vom Sachbuch "How to Start Your Own Country" inspirieren ließ und die von den Autoren Arne Nolting, Jan Martin Scharf und Klaus Wolfertstetter zur Serie weiterentwickelt wurde, transportiert "Herr der Fliegen" in die Alpen: Eine Gruppe junger Straftäter soll durch erlebnispädagogische Verhaltenstherapie nach dem Motto "Trial oder Trail" an die Resozialisierung herangeführt werden. Doch der Marsch nach knallharten Regeln durchs unwegsame Bergland gerät schon bald außer Kontrolle. Einer der Bergführer wird erschlagen aufgefunden. In Panik und aus Angst vor der Strafverfolgung flieht die Gruppe mit der leitenden Sozialarbeiterin als Geisel immer weiter und höher ins Alpenmassiv. In einer versteckten Höhle finden sie schließlich Zuflucht und beschließen im Kampf gegen Naturgewalt und eigene Aggression, eine Art freien Ministaat mit selbst auferlegten Gesetzen auszurufen.
Die Prämisse ist ebenso spannend wie anspruchsvoll und ließe sich theoretisch mit dem vorhandenen Areal an Action und Schauwerten ausbalancieren. Doch die Macher haben sich für eine weitaus komplexere Konstruktion entschieden. In jeder Episode wird eine der Hauptfiguren mitsamt ihrer kriminellen Vergangenheit in Form von Flashbacks näher vorgestellt. Zwischen diesen und dem horizontalen Handlungsstrang des Alpentrecks springt die Erzählung nicht nur wild hin und her, sondern hantiert innerhalb der Rückblenden auch noch mit mehreren Zeitebenen. In der ersten Folge etwa geht es um die 19-jährige Kim, verurteilt wegen Beihilfe zum Menschenhandel. In schneller, zunächst nur andeutungsweiser Abfolge sieht man, wie sich ihre erste große Liebe als Loverboy entpuppt, der sie auf den Strich schickt und misshandelt, wie sie dann mithilft, einen Prostitutionsring aufzubauen, schließlich als Kronzeugin gegen die Bande aussagen soll, aber in letzter Sekunde widerruft.
Das verlangt dem Zuschauer einiges ab, weil es sich bewusst unbehaglich anfühlen soll und außerdem Konzentration erfordert, wenn man alle Fäden zuordnen will. Den schmalen Grat zwischen reizvoller Herausforderung und überkomplexer Verwirrung kriegt die Serie oft hin, manchmal aber auch nicht und steht sich in solchen Momenten selbst im Weg. Im Großen und Ganzen trägt die Struktur dazu bei, Denken und Handeln der Protagonisten verständlich zu machen und sie von den klischeehaften Abziehbildern wegzurücken, als die sie zu Beginn mitunter erscheinen. Freilich geht es nicht um Sympathie oder Mitleid: Diese jungen Leute sind schwierige Charaktere, teils naiv, teils unverfroren, die von Drogenhandel über Körperverletzung bis zu Totschlag und versuchtem Mord auf ein verkorkstes Leben blicken.
Das größte Pfund, mit dem "Wild Republic" wuchern kann, ist das herausragende Schauspieler-Ensemble. Emma Drogunova als Kim, Merlin Rose als ausgleichender Leader Ron, Maria Dragus als ideologisch versierte Neonazibraut Lindi, Béla Gabor Lenz als manipulativer Soziopath Justin, Rouven Israel als dicklicher Nerd Marvin, Aaron Altaras als reizbarer Schläger Can und Camille Dombrowsky als in sich gekehrte Beauty-Bloggerin Jessica schaffen es allesamt, aus den nicht unkomplizierten Konzeptionen greifbare Menschen aus Fleisch und Blut zu machen, denen man mit fortlaufender Handlung gar ein Mindestmaß an Idealismus abnimmt. Und Verena Altenberger glänzt als engagierte Sozialarbeiterin Rebecca, die selbst in der Geiselsituation ein warmherziges Gegengewicht bildet, jedoch mit eigenen Abgründen für ein paar der überraschendsten Wendungen sorgt.
Wahrhaft spannend sind nicht nur einige der Plotpoints, sondern vor allem die sich verändernde Dynamik zwischen den Hauptfiguren, die tief in Konflikte, Misstrauen und Machtstrukturen eintaucht. Dafür nimmt man einige Ungereimtheiten in Kauf, wie etwa die Tatsache, dass Alter und Straftaten mancher Figuren sie in der Realität wohl kaum mehr für Erlebnispädagogik qualifizieren würden oder dass sich die Gebirgsnovizen auch ohne Führer erstaunlich schnell zurechtfinden. Die Regie von Markus Goller und Lennart Ruff ist immer dann besonders stark, wenn sie gruppendynamische Prozesse mit Blick fürs Detail in Szene setzt.
Auch die immer wieder atemberaubenden Einstellungen auf den Südtiroler Gipfeln sowie die von Szenenbildner Claus Rudolf Amler in den Kölner MMC-Studios nachgebaute Höhle zahlen erheblich auf den Entertainment-Faktor ein. Zwischendurch gibt es allerdings auch Sequenzen, die angesichts des enormen Dramatik- und Konfliktpotenzials eine Spur zu glatt und lieblich gefilmt erscheinen. "Wild Republic" mag sich ein bisschen zu viel vorgenommen haben. Aber das, was es erreicht, macht es allemal zu einer sehenswerten Serie.
"Wild Republic", auf Magenta TV, jeden Donnerstag zwei neue Folgen