Als Jörg Graf im Sommer 2019, wenige Monate nach seinem überraschenden Wechsel auf den Posten des RTL-Geschäftsführers, seine Vision für das RTL-Programm bei den Screenforce Days vorstellte, da stand vor allem eines im Mittelpunkt: Die Eventisierung des Programms, mit der RTL wieder "Talk of the Town" werden sollte.
Das betraf zum Einen das Fiktionale, wo man statt seichter und zuletzt auch meist wenig erfolgreicher Massenware lieber auf Miniserien setzen wollte, über die Deutschland dann auch spricht. Und auf der anderen Seite wollte man auch mit Events wie der "Passion" zu Ostern, einer live übertragenen Operation am offenen Herzen oder auch der Wiederbelebung des "Domino Days" wieder Zuschauer für sich gewinnen, die nicht wegen des gewohnten Regelprogramms ohnehin schon RTL laufen haben.
Doch dann kam die Corona-Pandemie und machte den Großteil dieser Pläne zunichte: Die Beschränkungen ließen die großen Events nicht zu, die ohnehin mit längerem Vorlauf versehenen Fiction-Pläne wurden ebenfalls verzögert. Und wenn dann mal eine – wirklich sehenswerte und mit einem breiten Publikum bekannten Stars wie Iris Berben oder Heiner Lauterbach auch noch hochkarätig besetzte – Miniserie wie "Unter Freunden stirbt man nicht" fertig ist, dann läuft sie bei Vox. Doch auch wenn vieles im RTL-Programm heute noch immer so aussieht wie vor Jahren: Die Handschrift von Jörg Graf ist inzwischen unverkennbar – und sie hat ebenfalls mit der Corona-Pandemie zu tun.
Wenn man Graf über seinen Sender sprechen hörte, dann dauerte es meist nicht lange, ehe das Gespräch auf die 700 Journalisten kam, die für die Gruppe arbeiten – und dass man daraus doch mehr machen müsste als das in der Vergangenheit der Fall war. Während das verlässliche Programmschema von den Senderverantwortlichen jahrelang wie der Heilige Gral gehütet wurde, setzte kurz nach Grafs Amtsantritt tatsächlich ein Umdenken ein, Sondersendungen um 20:15 Uhr – bis dahin eigentlich dem "Brennpunkt" vorbehalten – wurden vereinzelt eingestreut.
Inzwischen scheint der Wille zur Programmänderung aus aktuellem Anlass bei RTL gar so groß wie bei keinem anderen Sender: Allein in diesem Jahr gab es bislang gleich zwölf Sondersendungen um 20:15 Uhr. Das liegt natürlich an den besonderen Umständen durch die Corona-Krise – doch auch in dieser Situation musste RTL erst zu dieser Rolle finden, im Frühjahr war das noch keineswegs derart ausgeprägt. Und dieser Wille zur Aktualität beschränkt sich nicht auf die Primetime, auch seine Soaps lässt man inzwischen teils einfach ausfallen, wenn man anderweitig live gehen möchte – um den Preis, die treuen und für den Sender so wichtigen Soap-Fans zu verärgern und auf TVNow zu verweisen. Mehr Aktualität versuchte man daürber hinaus auch im Comedy-Bereich, startete Late-Night-Versuche mit Pocher und Knossi - wenn auch noch ausbaubar.
"Wendler-Gate" und weitere Sorgen
Besonders in den letzten Wochen seiner RTL-Regentschaft machte Jörg Graf aber insbesondere bei einem Thema alles andere als eine glückliche Figur – Stichwort "DSDS" und Michael Wendler. Man konnte vielleicht im Vorfeld nicht ahnen, dass der Schlagersänger plötzlich in die Verschwörungsschwurbelei abdriftet – doch dass man über Monate darauf beharrte, die schon aufgezeichneten Casting-Folgen trotz dessen schnellen Rauswurfs, trotzdem unbearbeitet zu senden, war eine klare Fehlentscheidung.
Selbst als ein KZ-Vergleich nach der ersten ausgestrahlten Folge die Runde machte, beharrten Jörg Graf und auch Unterhaltungschef Kai Sturm zunächst noch darauf, stur weiterzusenden – bis offenbar eine höhere Instanz eingriff und RTL seinen Juror so kurzfristig und unvorbereitet aus der Sendung schneiden bzw. überblenden musste, dass es schon unfreiwillig komisch war. Dass man wenige Tage später "Hitler-Transe" Nina Queer wieder aus der Dschungelshow auslud, obwohl es gar keinen neuen Sachverhalt gab, verstärkte nur den Eindruck, dass sich RTL mit seinem von Jörg Graf 2019 formulierten Bestreben auf mehr „kantige“ und polarisierende Figuren zu setzen, auch mehr Probleme einbrockte als es hilfreich gewesen wäre.
Das Wendler-Gate ist aber nicht das einzige Problem von "DSDS": Dienstags ließ man sich zwischenzeitlich von "Wer stiehlt mir die Show?" auf ProSieben sehr deutlich den Rang ablaufen. Auch wenn sich die Quoten inzwischen wieder ein Stück weit erholt haben, zeigte das doch: Die Bohlen-Shows sind bei einem starken Gegenprogramm längst nicht mehr unantastbar, das galt noch mehr fürs "Supertalent", das Ende 2020 mit Tiefstwerten zu Ende ging.
Und nicht nur dort bröckelt es, zahlreiche langlaufende Formate liegen derzeit weit unter dem Vorjahr. Im Januar fehlte nicht nur die gewohnte Stärke des Dschungelcamps, auch einst so erfolgreiche Serien am Donnerstag wie "Der Lehrer" oder "Magda macht das schon" liegen inzwischen unterm Soll, "Der Bachelor" hängt früheren Erfolgen hinterher. Ganz allgemein gilt derzeit: Von der erhöhten TV-Nutzung in Lockdown-Zeiten profitierten im Linearen fast nur ARD und ZDF, und zwar auch bei den Jüngeren. Die Privatsender inklusive RTL schafften es hingegen nicht, ein Angebot zu machen, das die zu Hause festsitzenden Zuschauer so sehr überzeugte, dass sie nicht doch lieber die Streaming-Dienste genutzt hätten. Wie stark TVNow davon profitierte, bleibt einstweilen unklar.
Doch damit wären wir bei den Herausforderungen, vor denen Grafs Nachfolger Henning Tewes, der neben TVNow bzw. künftig RTL+ nun auch RTL führt, vor allem aber auch der neue RTL-Programmdirektor Frank Trösken stehen. Denn RTL+ mag das Zukunftsprojekt sein, den Großteil der Einnahmen steuert einstweilen aber noch das lineare Fernsehen bei – es gilt also nach wie vor hier eine Antwort zu finden, wie man auch mit RTL ohne Plus in den kommenden Jahren ein Millionenpublikum erreichen kann. Soviel lässt sich schonmal sagen: Einfach TVNow-Produktionen aus dem Reality-Bereich zu zeigen, gehört nicht dazu, das bescherte RTL in den letzten Monaten zu häufig zu schlechte Quoten.
Tewes und Trösken müssen jetzt also Antworten darauf finden, wie man den Show-Bereich mit seinen bislang so dominanten aber weiter bröckelnden Bohlen-Shows endlich großflächig modernisieren kann. Dass Shows ein großes Millionenpublikum erreichen können und zugleich auch bei Jüngeren erfolgreich sein können, beweist ja nicht nur Das Erste regelmäßig, auch "Let's Dance" ist hier ein leuchtendes Positiv-Beispiel. Antworten darauf, wie und ob fiktionale Unterhaltung bei RTL künftig noch funktionieren soll. Antworten darauf, mit welchem non-fiktionalen Formaten man abseits der hundertsten Dating- oder Promi-Reality noch ein großes Publikum zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Einschalten bewegen kann.
Und sie müssen sich auch in die Niederungen der Daytime-Programmierung hinab begeben – ein Feld, das bei RTL für die Verantwortlichen schon lange nicht mehr vergnügungssteuerpflichtig ist. Aktuell versucht man es nachmittags mal mit Tierformaten, die Bilanz nach drei Tagen fällt noch ernüchternd aus. Am Morgen läuft es für den Sender derzeit sogar so schlecht wie nie. Viel zu tun also – eben nicht nur mit Blick auf den weiteren Ausbau des Streaming-Dienstes, sondern gerade auch mit Blick auf das lineare Fernsehen.