Eine der Menschheitsfragen des Fernsehens lautet seit längerem schon: Wann hat es eigentlich den Glauben an die Zukunft verloren? Früher verbanden Filmemacher mit dem Gedanken an Morgen gerne fortschrittsgläubige Visionen einer besseren Welt, die bei "Star Trek" gleich das gesamte All ergreift. Und heute? Versinkt unsere Zivilisation im Chaos zahlloser Zombie-Serien, nur weil ihre Stromversorgung kollabiert, oder wie es ein Überlebender formuliert: "Das Netz bricht zusammen und Baff – Mittelalter".
In das wurden Protagonisten der sechsteiligen Netflix-Serie "Tribes of Europa" katapultiert, nachdem ein globaler Cyberwar 2029 zum Blackout geführt und alles mit sich gerissen hatte: Gesellschaft und Staaten, Anstand und Moral, Sitten und Gebräuche, Recht und Gesetz. Der "Schwarze Dezember", an den sich 45 Jahre später nur Ältere wie Moses (Oliver Masucci) erinnern, hat das Nebeneinander der Nationen durch ein Gegeneinander rivalisierender Stämme ersetzt – friedliche wie die Origines, der den Geschwistern Liv, Kiano und Elja ein Waldrefugium bietet. Allerdings nur, bis es die kriegerischen Crows in Schutt und Asche legen.
Grund dafür ist ein Cube genannter Apparat, den Elja beim Piloten eines abgestürzten Flugzeugs findet. Das geheimnisvolle Gerät der sagenhaften Atlantier, darüber herrscht Einigkeit unter den letzten Europäern, ist der Schlüssel zur Macht. Weshalb viele in den folgenden acht Teilen die bösesten Dinge dafür tun, vor allem die blutrünstig-virile Crows-Amazone mit Männerharem Varvara (Melika Foroutan). Selbst im Abgrund ist der Mensch des Menschen Wolf. Wissen wir schon aus "Walking Dead". Und es wirft die nächste Menschheitsfrage des Fernsehens auf: wie schaffen es Komiker, beim Drehen ernst zu bleiben, wenn sie am laufenden Meter Witze machen?
In ihrer narzisstischen Melodramatik ist die Märchenmischung aus "Herr der Fliegen" und "Mad Max" mit drei Löffeln "Tribute von Panem" und einer Prise "Ronja Räubertochter" so unfreiwillig komisch, dass anspruchsvolle Zuschauer selbst dann ständig lachen, wenn wie so oft ein Hals durchgeschnitten wird. Dabei haben die "Dark"-Macher Quirin Berg und Max Wiedemann durchaus kreative Energie auf Kulissen und Kostüme verwandt. Virtuos kombinieren ihre Requisiteure archaische Fellkleidung mit Hipster-Relikten von heute. An den Animationen überwucherter Städte hatten die CGI-Programmierer spürbar ihren Spaß. Und Bühnenbilder wie das realsozialistische Partisanenmahnmal Petrova Gora eignen sich fast idealtypisch als Hauptquartier einer postapokalyptischen Diktatur.
Dummerweise hat Showrunner Philip Koch bei aller Optik glatt vergessen, dass er gar keine Snapchat-Videos dreht, sondern Szenen einer horizontal erzählten Streaming-Serie auf viereinhalb Stunden Länge. Und als "Tatort"-erfahrener Profi, hätte er die These vom zivilisatorischen Kollaps, der bei ihm linear in den Faschismus führt, zumindest kurz andiskutieren dürfen. Solch philosophischer Ballast jedoch hätte die ProSieben-affine Fortnite-Community ja nur daran gehindert, ihr gewohntes Eye-Candy aus dem Bombastpop-Gelee zu picken.
Während die Handlung mit Bausatz-Zitaten à la "wenn du leben willst, steig ein" oder "ziemlich ruhig hier" vor sich hinthrillert, worauf jemand natürlich "zu ruhig…" entgegnet, ignoriert Koch im Dienst seiner Überwältigungsästhetik alles, was sie inhaltlich erdet. Zwei Generationen, nachdem ein globales Desaster sämtliche tradierten Handlungsmuster zerfetzt haben müsste, sagt der berghaingerecht frisierte Poster-Rebell Kiano (Emilio Sakraya) daher Millenials-Sätze wie "ich raff’s einfach nicht", während sich ein Söldner (Eugene Boateng) wie ein Rapper durch die Blackout-Ruinen bewegt, weil er halt dunkelhäutig ist.
Unsere Gegenwart mag 2029 also – Baff – im Mittelalter gelandet sein; Moden, Stile, Habitus, selbst der Wiener Akzent des "Freud"-Darstellers Robert Finster haben sich ebenso ins Jahr 2074 gerettet wie die verfallsresistenten Jeans und Autos. Während alle Ordnungssysteme Richtung "Game of Thrones" verrohten, blieb die Zukunft der Vergangenheit dermaßen treu, dass nur besonders fiese Fieslinge zu Karies, mangelhafter Maniküre, nachlässiger Rasur neigen. Und wie üblich in dystopischer Science-Fiction ist der Klimawandel ausgefallen. Extremwetter jedenfalls kennen die "Tribes of Europa" nicht, aber dafür Sonnenschein, den keine Hoch- oder Tiefdruckgebiete, sondern die Stimmungslagen der Charaktere steuern.
Angesichts dieser routiniert berechneten Effekthascherei bleibt es nebulös, warum der prominente Cast von Henriette Confurius über Benjamin Sadler bis zur famosen Jeanette Hain ihre Namen dafür hergeben. Einerseits. Denn andererseits verschafft ihnen die schwarzweiße Hochglanzserie im deutsch-englischen Sprachmix eine weltweit wirksame PR, der sich nicht nur Teeny-Schwärme wie Jannik Schümann schwer entziehen können. Bei der Wiedemann & Berg Filmproduktion kann er seine 279.000 Instagram-Follower schließlich aufstocken, ohne das Feuilleton zu vergraulen.
Ach ja, und nebenbei noch die Fähigkeit schulen, auch dann nie zu lachen, wenn es lächerlich wird – also eigentlich die gesamten sechs Folgen der "Tribes of Europa". Sollten die Marktgesetze funktionieren, dürfte der süße Jannik trotzdem noch ein paar Staffeln mit der geheimnisvollen Jeanette trainieren. Bildgewaltiges Mysterypathos aus deutscher Herstellung ist längst auch global zugkräftig. Baff – Clickrekorde!
Alle sechs Folgen von "Tribes of Europa" stehen ab sofort bei Netflix zum Streamen bereit