Wehe dem, der ganz gezielt verpasste Folgen seiner Lieblingsserie beim Streaming-Ableger des deutschen Privatsenders abrufen möchte. Viel Zeit, Geduld und Nachsicht muss man mitbringen. Ein 45-Minuten-Format kommt dann schon mal mit Scharnier- und Unterbrecherwerbung auf deutlich über eine Stunde Laufzeit. Vorausgesetzt, die Netzqualität reicht aus und das Nachladen der Streaming-Inhalte gelingt ruckelfrei nach dem Ende eines Werbebreaks. Noch dazu erinnert aktuell so manche Werbeunterbrechung im Netz an die Anfänge des privaten Fernsehens in den 1980er-Jahren: Von Rücksicht auf Story und Dramaturgie konnte damals beziehungsweise kann heute keine Rede sein; Dialoge werden von Werbeclips zerhackt, die Szene mitten in der Handlung unterbrochen. Die im "Advertising-Video-on-Demand" (AVoD) eingesetzten Werbeformen können sich derzeit am ehesten mit der plumpen Bannerwerbung messen, die die ersten Online-Jahrzehnte prägte und zunehmend von klügeren digitalen Werbeformen an den Rand gedrängt wird.
Kurzum: Man muss schon großer Fan sein, um hier am Ball zu bleiben. Da hilft es auch nicht, dass das Werbegrauen so klingende Namen trägt wie "Mid Roll" (in der Regel nicht überspringbare Unterbrecherclips) oder "Shuffle Roll" (zufällig ausgespielte Platzierung des immer gleichen Spots vor, inmitten oder nach der Sendung). Ob diese Form von Produktenttäuschung den Nutzer dazu bringt, ihn vom Abonnement der werbefreien Premium-Bezahlvarianten zu überzeugen? Fraglich. Zumal sein Medienbudget bekanntermaßen begrenzt ist. Bei rund 20 Euro liegt die Schmerzgrenze für monatliche Paid-Streaming-Ausgaben, brachte eine Umfrage des Tech-Unternehmens The Trade Desk gemeinsam mit den Marktforschern von Appinio im vergangenen Frühsommer zu Tage. Gut zwei Drittel der 18- bis 34-Jährigen wollen demnach sogar nur 15 Euro im Monat für Bewegtbildinhalte bezahlen. Mit Netflix (ab 7,99 Euro monatlich fürs Abo) und Sky Ticket (ab 7,49 Euro im Monat) sind die Jungen bereits gut bedient. Indes würden 84 Prozent der Befragten ab 18 Jahren laut der Studie Werbeeinblendungen akzeptieren, wenn sich dadurch die Abo-Kosten reduzierten.
Auch kann es gar nicht im Interesse der Medienkonzerne wie ProSiebenSat.1 und Discovery (Joyn) oder der Mediengruppe RTL Deutschland (TV NOW) liegen, dass die Bezahlvariante ihrer Streaming-Plattformen zu dominant wird. Sie propagieren offen ein hybrides Angebot und damit neben dem Abo die zusätzliche Werbefinanzierung für mehr Erlöse – auch im Sinne der Werbungtreibenden. Denn gerade beim Streaming halten sich die jungen und begehrten Zielgruppen auf, die dem klassischen TV und Werbemarkt verlorengehen. Wie zuletzt der Digitalisierungsbericht der Landesmedienanstalten deutlich gemacht hat, nutzte 2020 rund jeder dritte 14- bis 29-Jährige (34,2 Prozent) Joyn, TV NOW oder Streams anderer kommerzieller TV-Anbieter. Doch ob gerade diese kritischen User die Fortsetzung der TV-Werbe-Einöde unter neuen Vorzeichen akzeptieren?
Art und Einsatz von Werbung im Streaming-Umfeld sollten unbedingt innovativer werden, um diese Finanzierungsform des Contents zu einem Erfolg werden zu lassen. Zumal der boomende Streaming-Markt die Umsätze aus der Werbeindustrie dringend braucht. Allein schon, um die riesige Nachfrage nach immer neuen Inhalten finanzieren zu können. So schätzte die Research-Agentur MoffettNathanson im vergangenen Jahr, dass allein die Schwergewichte Disney, AT&T/WarnerMedia und Netflix im Zeitraum von 2020 bis 2023 mehr als 56 Milliarden US-Dollar über die Welt verteilt in neue Streaming-Inhalte pumpen wollen. Noch profitieren gerade globale Medienmarken teils stark von dem, was sich an Content in mehreren Jahrzehnten des werbefinanzierten Fernsehens in ihren Archiven angehäuft hat. Doch gerade in Corona-Zeiten wird vieles davon "weggebinged". Neuer Stoff und am besten immer mehr regionale "Originals" müssen her, um Abonnenten bei Laune zu halten und neue Abnehmer zu finden. Einzig über SVoD (Subscription-Video-on-Demand) kann dieses teure Vorhaben nicht gestemmt werden.
Diverse Plattformbetreiber haben daher die Flagge für AVoD gehisst, das für den Nutzer dank Werbung kostenlos und auch häufig registrierungsfrei bleibt. ViacomCBS etwa hat den Anbieter Pluto TV vor zwei Jahren mit der klaren Absicht übernommen, im Streaming nicht ausschließlich auf Paid Content zu setzen. Neue und unabhängige Anbieter wie rlaxxTV aus Kiel wollen davon profitieren, dass immer mehr Werbungtreibende den Zuschauern ins Netz folgen. Zuletzt hat der 2020er-Branchenreport "Streaming Market Germany" der Beratungs- und Forschungsgruppe Goldmedia dem werbefinanzierten Streaming-Markt einen Umsatz von rund 1,5 Milliarden Euro attestiert. Das entspricht bereits rund einem Drittel der geschätzten Streaming-Gesamterlöse aus dem Vorjahr in Höhe von 4,3 Milliarden Euro. Glaubt man diesen Prognosen, dann wird AVoD hierzulande bis 2024 im weiter stark wachsenden Bewegtbild-Segment bis zu rund 40 Prozent der Umsätze beisteuern.
Was hat der Zuschauer davon?
Es gibt Medienunternehmen, die das neue Feld Streaming auch werblich neu und kreativ erschließen wollen. Getestet wird bei Werbespots beispielsweise die Interaktion mit dem Publikum. Mit "Voice Activated Streaming Ads" will etwa das Comcast-Unternehmen NBCUniversal bei seiner Streaming-Marke Peacock Werbung per Sprachbefehl spielerisch steuern. Unter anderem mit dem Konsumgüterriesen Unilever hat der Anbieter bereits namhafte Partner an der Seite, um auszuprobieren, ob sich Zuschauer Coupons sichern oder mehr über die beworbenen Produkte wissen wollen.
Blicken deutsche Streaming-Anbieter bei Technik und Algorithmen zu Netflix, so sollten sie beim Advertising Hulu ins Visier nehmen: Der Werbepart des Disney-VoD-Angebots hat schon öfter für positive Resonanz gesorgt. Ein Beispiel dafür ist das Werbeformat "Pause Ads", das sich an den Bedürfnissen des Streaming-Konsumenten orientiert. Das Anzeigenmotiv (kein Video) erscheint dabei fünf Sekunden, nachdem der Zuschauer auf Pause gedrückt und das Programm von sich aus angehalten hat. Die leicht durchscheinende Anzeige nimmt die rechte Seite des Standbilds ein. Hulu lässt nur vier jeweils passende Werbekunden pro Monat zu, die in nur wenigen Programmumfeldern ihre Motive platzieren dürfen. Als Procter & Gamble als Testkunde im Frühjahr 2019 in der neuen Hulu-Werbepause passenderweise mit dem Charmin-Bär für Klopapier warb, war der Spaß bei den Usern groß, wie Kommentare in den sozialen Netzwerken kundtaten.
Wenn HBO Max voraussichtlich ab 2022 nach Deutschland kommt, könnte die Streaming-Marke aus dem Hause AT&T/WarnerMedia werblich neue Maßstäbe setzen. Dass der Neuzugang zusätzlich auf AVoD setzt, verkündeten die Konzern-Granden bereits gut ein halbes Jahr vor dem US-Start im Frühjahr 2020. Und dass Streaming-Werbung mit HBO Max ein besonderes Gefäß bekommen soll, daran tüftelt seit knapp einem Jahr ein Teil der Mitarbeiter im WarnerMedia Innovation Lab in Manhattan. Im Juni 2019 teilte WarnerMedia mit: "Mit der Inanspruchnahme der Lab-Kompetenzen zur Revolutionierung des gesamten Fanerlebnisses schließt WarnerMedia auch die Werbung ein." Das Lab stütze sich bei Erprobung und Entwicklung neuer Werbemöglichkeiten auf Verbrauchereinblicke und Technologien von Xandr, dem "zukunftsweisenden Werbe- und Analytikunternehmen von AT&T". Als Ziel wurden "innovative Kundenerlebnisse" ausgegeben.
Zu hoffen bleibt, dass neue Werbeansätze die Möglichkeiten des digitalen Umfelds voll ausspielen und im Streaming ihre Kreise ziehen. Das bloße Übertragen der TV-Spot-Logik ins Netz schadet dem Genre AVoD. Streaming verdient klügere und kreativere Werbung.