Der deutsche Wald ist ein sagenhafter Ort: besungen in Märchen und Mythen, beseelt in Kultur und Kunst, bebildert in Film und Fernsehen. Schon das Nibelungenlied verklärt ihn als Urgrund germanischer Volksvernetzung, den erst die Dichter, Maler, Brüder der Romantik, dann die Tyrannen, Populisten, Parteistrategen der Machtpolitik bis zum Geltungskollaps überhöht haben. Falls dann auch noch Wölfe darin herumlaufen oder über den Schultern der Bewohner hängen, ist sein Mysterium – nein, noch immer nicht realistisch, aber rätselhaft genug, um einen sehr bemerkenswerten Sechsteiler mit Bedeutsamkeit zu füllen.
Mit "Barbaren" nämlich betritt Netflix ab heute gleich in dreifacher Hinsicht Neuland. Zum einen ist das opulente Heldenepos die erste Historienserie des Videoportals aus Deutschland. Zum anderen stellt es mit der Varusschlacht den germanischen Gründungsakt schlechthin nach. Und obwohl beides voller Fallen in den Abgrund von geschichtsklitterndem Kitsch ist, gelingt ihm damit ein verblüffend authentisches Stück Popcornfernsehen für Sesselarchäologen.
Arminius, wie Hermann der Cherusker vorm frisch erwachten Nationalpathos der Bismarck-Ära hieß, gerät darin als Tributzahlung in die Obhut des römischen Statthalters Varus und kehrt als Offizier des Feindes ins Dorf seiner Jugend zurück, um dort für Ordnung zu sorgen. Dieser Teil der historisch verbrieften Biografie ist zwar frei erfunden, dickt den fiktionalen Teil aber mit der nötigen Dosis Blut, Schweiß und Tränen zum Sippengemälde fast shakespearescher Art an.
Als Arminius im Auftrag seines Ziehvaters maßlose Steuern eintreibt, lehnen sich ausgerechnet die Kindheitsfreunde des verlorenen Sohns gegen ihn auf. Schon bevor er als Doppelagent heimkehrt, bringen "Aris" spätere Ehefrau Thusnelda und ihr Lover Volkwin die Römer so in Rage, dass der Showdown im Teutoburger Wald mit jedem der sechs Teile unvermeidbarer wird. Wie die Regisseure Barbara Eder und Steve St. Leger diese Zuspitzung nach den Büchern der Showrunner Arne Nolting und Jan Martin Scharf in Szene setzen, folgt dabei strikt den Branchenregeln des Historytainments.
Die Germanen dürfen zwar habituell derb sein, immer ein bisschen dreckig im Gesicht und generell rauflustig. Doch sobald die schriftlosen Bauernkrieger den Mund öffnen, ertönt durchs perlweiße Gebiss ein Vokabular, das abseits einiger Derbheiten (Fotze/Pisse/Scheiße) eher an Berlin-Mitte erinnert als nordische Sumpflandschaften 2011 Jahre zuvor, in denen die Fackeln stets ein wenig zu malerisch flackern und der Sex telegener Barbaren ebenso einvernehmlich ist wie grandios. So funktioniert rückwärtsgewandte Science-Fiction eben auch bei artverwandten Welterfolgen wie "Vikings" oder "Britannia".
Dramaturgisch sind Ur- und Frühgeschichte schließlich zumindest nördlich der Donau naturgemäß Steinbrüche, in denen nur grob geschlagene Brocken erkennbar sind, während die Feinheiten antiker Epoche darunter verschüttet bleiben. Abseits halbwissenschaftlicher Improvisationsübungen allerdings entfaltet das Vorzeigeprojekt von Sabine de Mardt, die seit zwei Jahren den deutschen Ableger der französischen Filmlegende Gaumont leitet, erstaunlich professionellen Charme erstaunlich plausibler Charaktere.
Bernhard Schütz zum Beispiel verleiht dem römisch-germanischen Doppelspion Segestes hingebungsvolle Verschlagenheit, die Ronald Zehrfelds reizbarer Haudrauf Berulf buchstäblich mit dem Hammer zertrümmern darf. Laurence Rupps Grenzgänger Arminius dagegen wirkt in seiner Zerrissenheit fast schon cineastisch und spricht dazu wie alle Römer untertiteltes Latein, während Jeanne Goursaud an Folkwins (David Schütter) Seite zwar viel zu schön ist, um barbarisch zu sein; ihre antike Form von "Germany’s Next Top-Germane" oder wahlweise "Deutschland sucht den Super-Cherusker" im Geiste Wodans jedoch wirkt mitreißend heroisch und kraftvoll.
Zu heroisch, zu kraftvoll, ließe sich an dieser Stelle einwenden. Ob es wirklich ein guter, verantwortungsvoller Zeitpunkt für nationale Erweckungsmythen voller Wölfe, Wälder, Wappentiere wie dem Adler ist, während der rechte Mob parallel dazu bis in die Parlamente hinein von Führer, Volk und Vaterland faselt, sei mal dahingestellt. Tatsache jedoch ist, dass geschichtlich überliefertes Halbwissen wenigstens in deutscher Sprache selten anschaulicher zu opulenter Fernsehunterhaltung wurde als in "Barbaren".
Die Kostüme von Esther Walz jedenfalls sind wie Thomas Stammers Szenenbild am Drehort Budapest näher an der denkbaren Realität als jedes Reanactment auf ZDFinfo. Und auch, wenn beides in der abschließenden Schlacht mit blutrünstiger Splatterfreude nachhaltig zerfetzt wurde: Weil das Leben von Arminius erst danach einigermaßen stichhaltig zu belegen ist, bieten die Racheschwüre und Schwangerschaften im Cliffhanger reichlich Potenzial zur Fortsetzung. Der Wolf blickt dazu bedeutungsvoll aus dem dunklen Wald heraus. Mystical-Fiction made in germany – hätte definitiv schlimmer kommen können.
"Barbaren" steht ab sofort bei Netflix zum Streamen bereit.