Am Ende war es Erlösung. Das schreibt man so in Todesanzeigen hinein, wenn man froh ist, dass das jahrelange Siechtum endlich vorbei ist. Man hat zwar einen lieben Verwandten verloren, aber mitanzusehen, wie er immer schwächer wird, wie ihm schon früh die Lebensgeister abhanden kommen, das ist einfach schwer auszuhalten. Da erwischt man sich manchmal beim Wunsch, es möge doch besser jetzt alles ganz schnell gehen.
Bei der "Lindenstraße" ging gar nichts schnell. Im Herbst 2018 fiel die Entscheidung, dass es an diesem Sonntag die letzte Folge geben, dass nach fast 35 Jahren das Totenglöckchen läuten werde. So hatte das die Fernsehprogrammkonferenz der ARD beschlossen. Lapidarer Grund: Kein Geld mehr, schwache Nachfrage. Damit begann ein eher unwürdiger Prozess des zu langen Abschieds, war die Chronik des angekündigten Todes quasi schon geschrieben.
Die Meldung vom kommenden Aus warf dann ein zu helles Licht auf das, was in der Serie wirklich noch geschah. Im Schatten der schon früh zur Legende mutierten Erzählung von der großen Bedeutung, die von der Seifenoper einst ausging, war eine besorgniserregende Blässe zu diagnostizieren.
Wie hatte man all die Jahre übersehen können, dass die "Lindenstraße" nichts mehr zu sagen hatte, dass sie zwar wie besinnungslos politische und soziale Probleme in ihren Drehbüchern reflektierte und ihre Protagonisten von einer Katastrophe in die nächste stolpern ließ, dass das alles aber mit der Welt jenseits des Produktionsgeländes in Köln-Bocklemünd immer weniger zu tun hatte. Die Lebenslüge, dass all das, was sich in der "Lindenstraße" abspielte, das wahre Leben spiegelte, erwies sich als eben solche.
Auf einmal wurde überdeutlich, dass es immer schon bessere Fernsehtechnik als in der "Lindenstraße" gegeben hat, dass dort auch schauspielerisch nicht gerade aus dem Sahnebottich geschöpft wurde. Man konnte in der Zeit nach der Aus-Entscheidung förmlich die Verzweiflung spüren, mit der noch ein Mord und noch eine Intrige und noch ein politisches Problem, das angeblich unbedingt angesprochen werden muss, in die Drehbücher gepappt wurde.
Hier geschahen Dinge, die nirgendwo sonst geschahen
Dabei war die "Lindenstraße" doch wirklich mal ein Pfund, das schwer auf die Waage fiel, wenn es galt, etwas zu bewegen. Der erste Schwulenkuss, der erste Aids-Tote, die klare Verortung im aufgeklärten linken Spektrum, das bedeutete mal etwas in Zeiten, da es medial noch nicht so schillerte.
Man muss sich ja nur mal das Ursprungsjahr 1985 in Erinnerung rufen. Da war das Privatfernsehen nicht einmal zwei Jahre alt, zu jung, um die innerlich noch immer schwarz-weiß funkenden Sender-Hierarchen der Öffentlich-Rechtlichen ernsthaft aus der Ruhe zu bringen. RTL funkte noch aus Luxemburg und erreichte gerade mal etwas mehr als eine Million Haushalte. Da war die Welt von ARD und ZDF noch in Ordnung, da durften in den Sendern noch Entscheidungen aus dem Bauch und aus Überzeugung gefällt werden.
27 Jahre liegen zwischen diesen beiden Fotos: Helga (Marie-Luise Marjan) und Klaus (Moritz A. Sachs) 1985 und 2012 (Foto: WDR/Steven Mahner)
Damals war es mutig, in der Kohl-Republik so etwas wie die "Lindenstraße" anzuschieben und sich auch die Haue dafür abzuholen, weil das optische Bild und die Anmutung der Szenen, vorsichtig gesagt, gewöhnungsbedürftig ausfielen. Kurzum: In der "Lindenstraße" geschahen Dinge, die nirgendwo sonst geschahen. Es gab Aufreger und Versuche, Hans W. Geißendörfer und sein Team stummzuschalten. Aber es gab eben auch Entscheider mit Rückgrat, die sagten: Nö, das bleibt.
Irgendwann wurde die "Lindenstraße" dann zur Institution, die nicht mehr in Zweifel gezogen werden durfte, die einfach da war. Man putzte morgens und abends die Zähne, wusch samstags das Auto und schaute am Sonntag die "Lindenstraße". Nicht nur zur Erbauung, oft auch einfach, um sich ein bisschen aufregen zu können. Irgendwann wurden die "Lindenstraße"-Figuren zum festen Inventar der Republik, sie waren dabei, wenn sich Lebensläufe veränderten, sie waren da, wenn es Wichtiges zu besprechen galt. Sie gehörten zur Familie, und nach dem Tod von Inge Meysel wurde Marie-Luise Marjan gar zur Mutter der Nation geadelt. Wenn ihre Mutter Beimer Spiegeleier in die Pfanne haute, wusste man, dass da etwas im Schwange war.
Tiefer kann man nicht runter im Schmonzettental
Im Prinzip verhielt es sich vor allem im neuen Jahrtausend mit der "Lindenstraße" wie mit einem etwas entfernten Verwandtenzweig, den man zwar weiter zu schätzen vorgibt, bei dem man allerdings auch ganz froh ist, wenn er sich eine Weile nicht meldet. Trotzdem würde man ihn mit Fauchen verteidigen, wagte es irgendwer, schlecht über ihn zu reden. Gehört halt zur Familie, diese buckelige Verwandtschaft, irgendwie zumindest.
Dieses innere Abrücken drückte sich auch in den Quoten aus. Von zweistelligen Marktanteilen ist die "Lindenstraße" schon seit rund fünf Jahren weit entfernt, von zweistelligen Einschaltzahlen, wie sie einst in den Anfangsjahrzehnten möglich waren, ohnehin. Zwischen zwei und drei Millionen Zuschauer wurden noch registriert, und im vergangenen Jahr waren eher Werte unter zwei Millionen der Standard. Im Februar wurde dann die Zwei-Millionen-Marke endlich wieder geknackt. Wahrscheinlich wollten viele nochmal beim alten Verwandten reinschauen, bevor er endgültig das Zeitliche segnet.
Solche Zahlen widersprechen natürlich der gerne verbreiteten These, dass Deutschland ohne diese Serie ärmer wäre. Really? Wer in den vergangenen Wochen reingeschaut hat, durfte erleben, wie Verzweiflung wirkt, wenn man sie auf 29 Sendeminuten streckt. Da gibt es noch einen Toten, noch eine Trennung, und dann darf auch noch Christine Neubauer als Lokalpolitikerin auftreten. Tiefer kann man nicht runter im Schmonzettental. Da ist nichts weiter geblieben als eine Art sozialdemokratischer Komödienstadl im Ausverkaufsmodus.
Dass es trotzdem noch Menschen gibt, die lauthals den Abschied von der "Lindenstraße" beklagen, hängt wohl damit zusammen, dass bei so manchem Zuschauer die "Lindenstraße" die Rolle eines Haustiers übernommen hat. Haustierhaltung vor allem im urbanen Umfeld ist ja häufig Ausdruck einer sozialen Schwäche. Man will nicht so arg allein sein. Oder um es kurz zu sagen: Wer einen Hund braucht, um sich gebraucht zu fühlen, der lebt sein Leben defizitär. Und wer jetzt kommt und daran erinnert, dass man sich ja auch um solche Menschen kümmern muss, dem sei gesagt, dass nichts dagegen spricht, die "Lindenstraße" in den Finanzierungskatalog der Krankenkassen aufzunehmen, wenn die denn bereit sind, die Wirksamkeit der Arznei anzuerkennen.
So klapprig wie das Rechtfertigungsgerüst der "Lindenstraße"-Fans ist, so jämmerlich fiel der Protest gegen die Absetzung aus. Erinnert sei an einen bitterkalten Januartag 2019, als sich ein paar hundert Fans neben dem Kölner Dom versammelten und sich gegenseitig Stärke zufächelten und einander glauben machten, sie seien eine starke Bewegung, die es den ARD-Oberen schon noch zeigen werde. Das mediale Echo dieser Aktion war prompt größer als ihre Bedeutung. Kurz danach war dann von gemeinsamem Großprotest nichts mehr zu hören und zu sehen.
Nun steht am Sonntag das Ende an, und keiner weiß, wie es werden wird. Wahrscheinlich wird sich die Zuschauerzahl zur allerletzten Folge noch einmal verdoppeln. Die Menschen müssen ja eh zuhause bleiben, und dann schaut man halt der "Lindenstraße" beim finalen Zucken zu. Danach ist Schluss. Ende. Aus.
Ein paar Requisiten wandern in Museen, und die Schauspieler werden anderweitig eine Anschlussverwendung finden. Das Leben wird irgendwann wieder seinen Gang gehen, und in einem Jahr im März wird kein Hahn mehr nach der "Lindenstraße" krähen. Warum denn auch? Sie hat sich selbst überlebt. Viel zu lange. Am Ende war es Erlösung.