Als Jürgen und Zlatko einst in grauer Vorzeit ins "Big Brother"-Haus einzogen, war Gina noch nicht einmal geboren. An der 19-jährigen Schulabbrecherin lässt sie vermutlich am besten erkennen, dass aus der Mutter aller Realityshows inzwischen eine Großmutter geworden ist. Das hält Sat.1 allerdings nicht davon ab, es noch einmal zu probieren. Dankenswerterweise haben sich Gina und 13 andere Kandidaten dazu bereit erklärt, sich maximal 100 Tage von Kameras beobachten zu lassen. Und weil das heute mutmaßlich weit weniger spannend ist als vor 20 Jahren, als sich sogar der Bundestag mit "Big Brother" beschäftigte, haben Sender und Produzenten darüber nachgedacht, wie sie das Konzept des großen Bruders ins Hier und Jetzt übertragen können, schließlich lässt heutzutage ohnehin jeder drittklassige Influencer von früh bis spät die Webcam laufen.
So muss mit der Zeit die Idee gereift sein, den Wert eines Menschen ermitteln zu wollen. Nicht, dass das in der Vergangenheit nicht auch schon über die Zahl der Anrufe geschehen wäre – jetzt sollen die Zuschauer den Bewohnern jedoch mittels einer Fünf-Sterne-Bewertung möglichst täglich zu verstehen geben, was genau sie von ihnen halten. Das alles geschieht freilich in dem Kalkül, für ordentlich Zündstoff zu sorgen. Um ein Gefühl für die Thematik zu bekommen, hat Sat.1 von seinen Kandidaten schon vor dem Einzug wissen wollen, wie hoch sie denn ihren eigenen Wert einschätzen. Das Spektrum der Antworten hätte größer kaum ausfallen können. "Das kann kein Mensch der Welt bezahlen", lässt eine Bewohnerin wissen. Ein anderer antwortet vielsagender: "Mindestens zwei Kamele, drei Pferde, ein Koala und 'ne Hauskatze."
Man verrät nicht zu viel, wenn man behauptet, dass der philosophisch wertvollste Moment der Auftakt-Sendung mit dieser Aussage des 21-jährigen Tim bereits erreicht war – dicht gefolgt von einer weiteren grandiosen Selbsteinschätzung des Studenten: "Ich mach einfach Dinge und die mach ich einfach." Nicht weniger spannend ist das, was das Publikum über Cathleen erfahren darf. Sie sei gerne nackt, erzählt sie und liefert prompt die passende Begründung mit: "Es nervt halt, immer irgendwas anzuhaben." Und überhaupt drehe sie schon durch, wenn sie vier Tage keinen Sex habe.
Damit passt Cathleen vielleicht ganz gut zu Philipp, der dank positiver Bewertungen am Montag als erstes einziehen durfte. "Sex ist mir wichtig", sagt er, verspricht aber, erst mal in Badehose duschen zu wollen. Allzu große Erwartungen an seine "Big Brother"-Teilnahme scheint Philipp nicht zu haben: "Fitnessstudio, da freu ich mich am meisten drauf", entfährt es ihm. Da stellt sich die Frage, ob ein McFit-Abo mit drei Gratis-Monaten nicht die bessere Wahl gewesen wäre. Kurios auch, was Kandidat Mac von sich preisgibt: Er saß bereits wegen Cannabis im Knast, lebt heute als Vegetarier und arbeitet hauptberuflich als Burger-Tester. Klar, dass es nicht lange dauern sollte, bis Jochen Schropp ihn als "Big Mac" ins Studio rief. Gut auch die Frage des Moderators, was Mac aus seiner Gefängniszeit mit ins Haus nehme. Nun, Gras wohl eher nicht.
Inzwischen ist der junge Mann vom Knast ins sogenannte "Glashaus" aufgestiegen, das er sich in den kommenden Wochen unter anderem mit der bisexuellen Michelle teilen wird. Auch sie kann zum Einzug mit einer erstaunlichen Lebensweisheit aufwarten: "Big Brother" bedeute für sie Freiheit, erzählt die Kandidatin unmittelbar vor ihrem Einzug im Studio-Talk und weiß damit nicht nur Jochen Schropp zu überraschen. Womöglich hätte Sat.1 gut daran getan, der jungen Frau im Vorfeld noch einmal das Konzept der Show zu erklären. Aber dafür ist es nun zu spät, denn die Tore sind geschlossen und der ganz normale "Big Brother"-Wahnsinn hat 20 Jahre nach der Premiere einmal mehr von vorne begonnen.
"Alles analog und anspruchslos"
Anders als damals haben die Macher diesmal übrigens gleich zwei Häuser errichtet – ein gut ausgestattetes "Glashaus", in dem jedoch ständig das Feedback des Publikums auf die Bewohner einprasselt, und ein "Blockhaus", das als Gegenmodell zur digitalen Welt verstanden werden soll. Oder wie Sat.1 es ausdrückt: "Alles analog und anspruchslos." Dass die Mehrzahl der Kandidaten lieber in der einfachen Hütte eingezogen wäre, spricht indes für die Protagonisten. Weil "Big Brother" jedoch kein Wunschkonzert ist, mussten die unbeliebtesten von ihnen jedoch mit dem Vorlieb nehmen, was übrig blieb und dann doch ins "Glashaus" ziehen, bei dessen Einrichtung sich Sat.1 offenbar von Hänschen Rosenthals alter "Dalli Dalli"-Wabenwand inspirieren ließ.
Dort stehen übrigens auch ein Roboter und ein überdimensioniertes Handy, über das bereits erste freundliche Fanpost an die Bewohner übermittelt wurde (zum Beispiel: "Ich find sie jetzt schon super nervig und anstrengend" oder "Lame, also kein Fame"). Im "Blockhaus" wiederum leben ein paar Hühner, die man besser nicht wissen lassen sollte, dass wenige Meter von ihnen eine Kandidatin nächtigt, über die ein kurzer Einspielfilm verrät, sie habe in früheren Jahren auf den Philippinen bereits 40 Artgenossen geschlachtet. Bleibt zu hoffen, dass es in den nächsten drei Monaten nicht zum Äußersten kommen wird.
Den ganz großen Aufreger hat es zumindest in der Einzugsshow noch nicht gegeben. Doch das Setting und die ersten Eindrücke der Kandidaten legen die Hoffnung nahe, dass die Staffel mehr zu bieten haben wird als der bislang letzte "Big Brother"-Versuch, den Sixx vor fast fünf Jahren unternahm. Die Bewertungen könnten sich als spannendes Gimmick erweisen, sollte sich zwischen Hühnerstall und Fitnessraum einmal Lethargie breit machen. Jochen Schropp ist jedenfalls schon jetzt begeistert. "Das sind die besten Bewohner, die wir uns nur wünschen können", frohlockt er, noch bevor die Kandidaten auch nur einen Finger krumm gemacht haben. Nicht auszudenken, wie groß seine Euphorie beim ersten Zähneputzen sein wird. Das muss sie sein, die ganz besondere Magie der Großmutter als Realityshows.
"Big Brother" läuft montags bis freitags um 19:00 Uhr in Sat.1, die Entscheidungsshows gibt es montags um 20:15 Uhr zu sehen.