Auf die Party folgt meist der Kater, ein stumpfes Pochen im Schädel wie Hammerschläge auf Turnmatten. Dazu flauer Magen, fiese Stimmung, großes Leid – gemeinsam eine Vendetta der Reue, die nur erträglich wird, weil das Fest den Schmerz auch wert war. Denn wenn Gedeon Rath zum Auftakt der 3. Staffel „Babylon Berlin“ im Fieberwahn an Selbstmördern vorbei durchs Bankencrash-Inferno torkelt, wenn der Kriminalkommissar fünf Wochen zuvor buchstäblich vom häuslichen Spießerparadies aus in den Abgrund seiner kriegstraumatisierten Seele steigt, wenn also alles an der Serie wie ein realer Alptraum wirkt, dann muss man sich bloß kurz der schillernden Vorgeschichte erinnern – schon erscheint die Tristesse der Wirklichkeit ein klein wenig heller.
In dieser Realität nämlich hatte Sky mit der ARD vor gut zwei Jahren das rauschendste Fest der hiesigen TV-Geschichte gefeiert. Gefühlt die Hälfte aller deutschen Fernsehstars marschierten dafür im Herz der Weimarer Republik auf, um frei nach Volker Kutschers Roman „Der nasse Fisch“ gleich zwei Quotengaranten zu kombinieren: Krimi und Kostümball. Das Resultat brachte dem Bezahlsender ebenso wie der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz nicht nur Publikum und Preise, es wurde auch noch in fast 100 Länder verkauft und machte damit global betrachtet niemand geringerem als „Derrick“ Konkurrenz.
Dessen Glanz hatte sich zwei Fernsehrevolutionen vorher jedoch auf die Glut ständig brennender Kippen beschränkt. „Babylon Berlin“ dagegen? Ein detailverliebt ausgestatteter Funkenflug aus dem Zwischenkriegswahnsinn, der zwei Staffeln lang keineswegs allen gefiel, doch nur wenige kalt ließ. Die Messlatte einer Fortsetzung lag da trotz ähnlich hoher Produktionskosten von 40 Millionen Euro höher als jede Champagnerpyramide im Moka Efti, dem Partytempel der ersten 16 Episoden. Womöglich zu hoch? Mitnichten!
Die Rückkehr von Volker Bruch als psychisch labiler, aber instinktsicherer Mörderjäger Gedeon Rath an der Seite seiner hinreißend rotzigen Assistentin Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) fügt der bisherigen Romanadaption nämlich etwas Neues hinzu. Ging es 2017 noch um digital aufgemöbelte Kulissen, in denen bittere Armut und bizarrer Überfluss, politische Intrigen und großstädtischer Alltag schnellen Schnittes um fiktionale Deutungshoheit kämpften, dringt „Babylon Berlin“ 2020 ein Stück weit tiefer ein in seine Zeit.
Auch die neuen Teile spielen kurz vor Machtergreifung und Weltwirtschaftskrise, das sich im Prozess gegen Haushälterin Greta (Leonie Benesch) spiegelt, die Ende der 2. Staffel von Nazis getäuscht den Chef der Geheimpolizei getötet hatte. Und inmitten der soziokulturellen Umwälzung ringt wie gewohnt das organisierte Verbrechen um den Armenier (Mišel Matičević) um Macht, Sex, Geld und einen rätselhaft sabotierten Kinofilm, in den er Millionen gesteckt hat. Unter der schillernden Oberfläche aber, entführt uns der Showrunnersroom aus Tom Tykwer, Henk Handloegten, Achim von Borries ins Innere des Menschen und malt dabei ein (Un-)Sittengemälde der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts, das einiges über jene von heute zu sagen hat.
Fernsehlebensbejahenden These der Antithese
Als der obskure Bankier Nyssen (Lars Eidinger) im Heck seiner Limousine das Platzen der Finanzblase vorhersagt, beschreibt er schließlich erschreckend präzise die Krisen unserer Zeit. Ähnliches gilt für die Inszenierung nachfrageorientierter Sensationsmedien, in denen sich schon 1929 andeutet, wie Kampagnenjournalismus und Faknews 80 Jahre später zur verschwörungstheoretischen Meinungsinfiltration von rechts blasen. Und stets tief drin, statt nur dabei: Gedeon Rath, dessen Mix aus Psychose, Party, Pflichterfüllung die seelische Zerrüttung unserer Tage sehr plakativ nachspielt. All dies macht „Babylon Berlin“ zur fernsehlebensbejahenden These der Antithese, deutsche Serienunterhaltung könne nicht an sich selber wachsen, schlimmer noch: sie sei von so kleingeistigem Riesenwuchs, dass die Knospen der Kreativität unterm Krebsgeschwür überinszenierter Mittelmäßigkeit verschwinden.
Sicher, auch diesmal herrscht stilistisch oft ein bisschen zu viel Bauhaus, das so kurz vorm Nationalsozialimus ja allenfalls akademische Nischenkultur war. Auch diesmal werden Reporter despektierlich als Kreuzung aus Heiratsschwindler und Kettenhund dargestellt. Auch diesmal wird arg vieldeutig im Halbschatten schräg von oder nach oben geblickt, bevor Zeugen just im Moment ihrer entlarvenden Aussage sterben. Und auch diesmal hätte das bedrohliche Hintergrunddröhnen zwielichtiger Szenen besser zu „Dark“ anno 2019 als Berlin anno 1929 gepasst.
Darüber hinaus aber haben vom Szenenbilder Hanisch über den Komponisten Klimek bis zur Kreativabteilung um den deutschen Weltregisseur Tykwer alle Erstaunliches geleistet, um den Grundmakel deutschen Historytainments anzugehen: moralinsauer zu dozieren, statt geschichtsbewusst zu unterhalten. Denn wenn Charlotte Ritters Unterschichtendasein im doppelt vermieteten Gitterbett mit dem Pomp der bürgerlichen Boheme kontrastiert wird, entsteht daraus kein gegenseitiger Rechtfertigungsfuror, sondern vielschichtiges Entertainment.
Selbst, dass die zwei Überfiguren der ersten zwei Staffeln – Matthias Brandt und Peter Kurth – aus der Serie gestorben sind, ist da kein Problem mehr. Schließlich werden beide von einer Riege exzellenter Darsteller wie Ronald Zehrfeld, Meret Becker, Hanno Koffler, Martin Wuttke ersetzt, die uns abermals tief in die soziokulturell vielleicht spannendste Zeit der deutschen Geschichte zieht. Die Party geht weiter, nur dass sie mittlerweile im Kellerclub spielt.
"Babylon Berlin" läuft freitags um 20:15 Uhr bei Sky 1.