Als Kritiker wünscht man sich so manches Mal, dass bestimmte Serien einfach gut sein müssen. Wenn jemand mit hohem Aufwand ein kontroverses, zeitgenössisches Thema anpackt und TV-Sender den Mut auch noch mit einer prominenten Programmierung belohnen, dann möchte man am liebsten nur loben und nicht tadeln. "Eden" ist so ein Fall. Auch wenn die Macher sich das Label nicht selbst verpasst haben, war es unvermeidlich, dass ihr Projekt schon in der Entstehung als "die Serie zur europäischen Flüchtlingskrise" firmierte.
Das ist ein großes, ambitioniertes Vorhaben: mit fiktionalen, aber doch dicht an der Realität verorteten Figuren und Handlungssträngen dem oftmals viel zu abstrakten, viel zu vorurteilsbeladenen Nachrichten-Dauerthema ein emotional greifbares Gesicht zu geben. "Eden" versucht das mit vielen verschiedenen Gesichtern und mit fünf eigenständig nebeneinanderstehenden Storylines, die teils enger, teils loser miteinander verwoben sind.
Zu Beginn stolpert der nigerianische Teenager Amare aus einem Flüchtlingsboot an den griechischen Strand, wo gerade das Mannheimer Lehrer-Ehepaar Hennings mit seinem Sohn Florian urlaubt. Während wir diese Familie zu Hause dabei beobachten können, wie sie infolge des Erlebnisses einen syrischen Flüchtling bei sich aufnimmt, dessen Anwesenheit Florian zu verstören scheint, sehen wir Amare und seinen älteren Bruder bei der gewaltsamen Flucht aus einem Athener Flüchtlingscamp, die mit dem Tod des Bruders endet. Die griechischen Security-Guards Yiannis und Alexandros, die die beiden Jungen verfolgt hatten, vertuschen den Vorfall, lassen die Leiche verschwinden und haben fortan mit Schuld und Sühne zu kämpfen.
Die französische Unternehmerin Hélène Durand wiederum betreibt das Camp mit privaten Investoren und tut alles dafür, ihr neues Geschäftsmodell mit Unterstützung der EU-Kommission auf andere Standorte auszuweiten. Und dann ist da noch der syrische Arzt Hamid Farhi, der mit Frau und Tochter in Paris politisches Asyl sucht, dort jedoch von merkwürdigen Spuren seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird. So weit, so komplex. Damit das Vorhaben aufgeht, bräuchte es ein paar spannende Charaktere, denen man folgen mag, mit denen man leidet und zittert, die man liebt oder hasst.
Innerhalb des umfangreichen Figurentableaus von "Eden" fehlt ein solcher Gravitationspunkt. Die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen wird oft unnötig umständlich erzählt. Über weite Strecken stimmt das Timing nicht, zu wenig dramaturgische Substanz wird auf zu viel Sendezeit gestreckt. Und am schlimmsten: Der Ton der Serie kommt didaktisch statt emotional daher. So bleibt außer der ambitionierten Grundidee leider nichts zum Loben übrig.
Das mag an der schwierigen Entstehungsgeschichte der deutsch-französischen Koproduktion liegen. Auf Basis einer Idee von Jano Ben Chaabane und Felix Randau, denen wir Werke wie "Culpa", "Druck" oder "Der Mann aus dem Eis" zu verdanken haben, hatte Top-Regisseur Edward Berger 2016 die Konzeption und Drehbucharbeit mit einem fünfköpfigen Writers' Room aufgenommen. Ein Jahr später kam seine Arbeit an "Patrick Melrose" dazwischen. Arthouse-Regisseur Dominik Moll, ein Franzose mit deutschen Wurzeln, übernahm das Projekt und heuerte neue Autoren an. "Mit dem neuen Autorenteam wollte ich einen anderen Ansatz wählen – näher an den Figuren, mit mehr Gefühl und auf ernsthafter Recherche begründet", erläuterte Moll im März gegenüber "Variety". "Wir hatten nicht viel Zeit und wir befanden uns noch immer im Drehbuchprozess, während wir schon drehten, was manchmal ein bisschen stressig war."
Immerhin standen Moll hochkarätige Schauspieler wie Sylvie Testud in der Rolle der Camp-Betreiberin, Trystan Pütter als zwielichtiger Schweizer Anwalt oder Juliane Köhler und Wolfram Koch als Mannheimer Lehrer-Ehepaar zur Verfügung. Doch auch die können wenig dagegen ausrichten, dass ihre Rollen als überladene Abziehbilder geschrieben sind. Hélène darf keine Unternehmerin aus Fleisch und Blut sein, sondern muss als kettenrauchende Karrierefrau stets ein gekünsteltes Level aus zwei Dritteln Durchtriebenheit und einem Drittel Rest-Gewissen aufrechterhalten. Silke und Jürgen wiederum sind die sprichwörtlichen Gutmenschen, deren himmelschreiende Naivität unfreiwillig komisch wirkt und ein Familienchaos auf "Lindenstraßen"-Niveau heraufbeschwört.
Die Liste der Klischees und der bemühten Zufälle, um eine Szene ins Ziel zu bringen, ist lang. Zu lang für eine ernst zu nehmende High-End-Serie im Jahr 2019. Selbst das Potenzial, das im anrührend authentischen Spiel des 15-jährigen Joshua Edoze als Amare steckt, wird durch die arg sprunghafte Erzählweise weitgehend vertan. Zweifellos hätte es "Eden" gut getan, sich auf ein oder zwei seiner fünf Ebenen zu konzentrieren, deren prägenden Figuren mehr Raum, Tiefe und Charisma zu geben. Oder aber auf Grundlage der offenbar emsigen Recherche die realen Vorbilder ganz ohne Fiktionalisierung in einem dokumentarischen Format zu Wort kommen zu lassen.
Man hätte sich dann als Zuschauer vermutlich weniger belehrt und manipuliert gefühlt als bei der jetzigen Konstruktion, die auf Biegen und Brechen demonstrieren will, dass alles mit allem zusammenhängt. Auf der visuellen Ebene macht "Eden" aus seinen zahlreichen Schauplätzen viel zu wenig. Molls Inszenierung wirkt weder groß und aufregend noch klein und mikroskopisch, sondern einfach nur konventionell und beliebig. Es wäre interessant gewesen, zu sehen, welche Bilder Edward Berger dem Stoff entlockt hätte.
Die ersten drei Folgen von "Eden" laufen heute ab 20:15 Uhr bei Arte sowie am Mittwoch, 8. Mai ab 20:15 Uhr im Ersten. Die Episoden 4 bis 6 folgen am Donnerstag, 9. Mai bei Arte und am Mittwoch, 15. Mai im Ersten.