"Ambra, Basis eines guten Parfums. Ambra ist Lust. Süße, schmerzhafte, mörderische Lust", sagt die tiefe Stimme im Prolog, während die Kamera über die dunklen, fast schon gespenstischen Felder irgendwo am Niederrhein fliegt und schließlich eine nackte Frau einfängt, die wenig später tot in einem Pool aufgewunden wird. Ihr Schädel kahl rasiert, ihr Körper versehen mit blutigen Schnittwunden in den Achselhöhlen und im Intimbereich. "Ambra entstammt dem Verdauungstrakt kranker Pottwale", erzählt die Stimme weiter. "Kosten: 50.000 Euro das Kilo. Die teuerste Scheiße der Welt."
So beginnt die neue Serie "Parfum", die auf dem weltbekannten Bestseller von Patrick Süskind basiert und doch eine gänzlich eigene Geschichte erzählt. Es ist zweifelsfrei ein Experiment, auf das sich Executive Producer Oliver Berben, Produzentin Sarah Kirkegaard und das ZDF eingelassen haben. Millionen haben den Roman gelesen, viele weitere den Kinofilm gesehen – da liegen Vergleiche auf der Hand. Doch "Parfum" ist glücklicherweise so weit entfernt von der Vorlage, dass man den Gedanken an den Serienmörder Jean-Baptiste Grenouille schnell beiseite schiebt, auch wenn die Romanfigur mit ihrem ganz besonderen Geruchssinn trotzdem allgegenwärtig ist.
Zu fesselnd ist die von Eva Kranenburg erdachte Handlung; zu beeindruckend sind die Bilder, mit denen sie von Regisseur Philipp Kadelbach auf verschiedenen Zeitebenen erzählt wird. Nur für einen ganz kurzen Moment, gleich nach dem eindringlichen Prolog, wenn die Ermittler den Leichnam in Augenschein nehmen, keimt die Sorge auf, "Parfum" könne sich in die Richtung eines experimentellen "Tatort" entwickeln. Die Angst ist jedoch unbegründet. Stattdessen entwickelt die Serie eine völlig eigene, eindringliche Note, mit der sie sich über sechs Folgen hinweg von allem abgrenzt, was Serien-Deutschland im Krimi-Genre in den zurückliegenden Jahren hervorgebracht hat.
Bei der toten Frau, die leblos im Wasser aufgefunden wird, handelt es sich um die rothaarige Sängerin K. "Hier war ein Meister am Werk", stellt der Pathologe nüchtern fest, als er ihre Wunden in Augenschein nimmt. Es dauert nicht lange, bis die Ermittlungen die Profilerin Nadja Simon (Friederike Becht) in die Vergangenheit von fünf ehemaligen Internatsschülern führen: Roman Seliger (Ken Duken) und seine Frau Elena (Natalia Belitski), der schüchterne Daniel "Zahnlos" Sluiter (Christian Friedel), Bordellbetreiber Thomas Butsche (Trystan Pütter) und Moritz de Vries (August Diehl), der in Paris als Parfümeur arbeitet, hüten seit zwei Jahrzehnten ein Geheimnis, das nun aufzufliegen droht.
So konventionell der Plot um die Internatsschüler zunächst auch klingen mag, so meisterhaft lässt "Parfum" die Zuschauer lange über die wahren Hintergründe im Unklaren und zieht sie dadurch mit jeder Folge tiefer in den Fall hinein, dessen Ausmaße man am Anfang nicht mal ansatzweise erahnen mag. Das gelingt, auch, weil die Kamera von Jakus Bejnarowicz stets nah dran ist an den vielschichtig angelegten Protagonisten. Oft sind es nur feine Nebensätze und kurze Gespräche, durch die es sich bemerkbar macht, wie sorgfältig sich Eva Kranenburg ihre Figuren erdacht hat. Und wann immer man glaubt, der Lösung des Puzzles auf der Spur zu sein, nimmt die Geschichte eine neue Wendung.
Einzig die Liaison zwischen der Ermittlerin und dem von Wotan Wilke Möhring verkörperten Staatsanwalt nimmt bisweilen etwas zu viel Raum ein. Der Spannung tut das jedoch keinerlei Abbruch; der Sog bleibt ungebrochen, denn Kadelbach gelingt es in Perfektion, den Rhythmus hochzuhalten und Raum für Fantasie zu lassen. Herausgekommen ist eine typisch deutsche Serie, obwohl sie - ein Stück weit wie "Dark" - in Wirklichkeit so gar nicht typisch deutsch daherkommt. Typisch deutsch deshalb, weil die Spielorte beim Zuschauen trotz all der Dunkelheit ein Gefühl von Vertrautheit auslösen. Die Inszenierung wiederum geht ihre ganz eigenen Wege und ist alles, außer gewöhnlich. Ein cineastisches Erlebnis, ja, ganz großes Fernsehen.
Wie gut, dass das ZDF sämtliche Folgen auf einmal in der Mediathek bereitstellt: "Parfum" bietet nämlich bestes Binge-Watching-Fernsehen – daher mag es kaum überraschen, dass auch Netflix als Partner an Bord ist und die Serie über die deutschen Landesgrenzen hinaus, später dann auch in Deutschland zeigen wird. Hierzulande ist "Parfum" jedoch zunächst für ZDFneo eine große Chance. Denn obwohl "Parfum" ohne Probleme auch im Hauptprogramm bestens aufgehoben wäre, wird die Moovie-Produktion zunächst vom kleineren Beiboot als sogenanntes "Neoriginal" ausgestrahlt. Es darf davon ausgegangen werden, dass der Sender dadurch an Ansehen gewinnen wird.
Zwar hat sich ZDFneo auch in der Vergangenheit schon mehrfach an ganz ansehnlicher Fiction probiert, doch mit "Parfum" betritt der Sender nun eine völlig neue Bühne, nicht nur hinsichtlich des Budgets. Viel wichtiger: Mit der Serie macht sich ZDFneo für eine Zielgruppe interessant, die sich zunehmend vom klassischen Fernsehen abwendet – ein krasser Gegensatz zu den großen Privatsendern, denen es aktuell mit vorwiegend gewöhnlichen Stoffen vor allem darum zu gehen scheint, all jene bei der Stange zu halten, die dem Fernsehen die Treue halten. Noch, möchte man ergänzen. Nach "Babylon Berlin" und "Bad Banks" erweist sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen bei "Parfum" erneut als Innovationsmotor im Serienbereich – in diesem Fall mit freundlicher Unterstützung aus Los Gatos.
ZDFneo zeigt die ersten beiden Folgen von "Parfum" am Mittwoch um 22:00 Uhr, in der Mediathek steht ab dann auch die gesamte Staffel zum Abruf bereit. Im ZDF wird "Parfum" Anfang 2019 zu sehen sein.