Nimmt man das Medienecho als Gradmesser, steht mit "You Are Wanted" am kommenden Freitag der wichtigste Serienstart des Jahres, wenn nicht gar darüber hinaus, bevor. Das hat zwei gute Gründe: Matthias Schweighöfer ist als Schauspieler, Regisseur und Produzent nun einmal der Superstar Nummer eins, den das deutsche Kino zu bieten hat. Und wenn der dann auch noch die allererste deutsche Serie für eine globale Streaming-Plattform abliefert, sind höchste Aufmerksamkeit und ebensolche Erwartungen gewiss.
Schweighöfer enttäuscht sie nicht. Sein erklärtes Bemühen darum, gegen höher budgetierte US-Serien auf demselben Screen nicht abstinken zu wollen, ist erstaunlich gut aufgegangen. Selbst Schweighöfer-Hater – auch davon gibt es etliche im Land und in den Medien – werden nach Abzug ihrer Vorurteile einen intelligent angelegten, mal bedrohlichen, mal emotionalen Verschwörungsthriller mit Sogwirkung vorfinden.
Schweighöfer spielt Lukas Franke, einen gut situierten Hotelmanager im Berliner Waldorf Astoria mit glücklicher Familie und Häuschen am Stadtrand. Seine Tragödie beginnt, als er nach einem großflächigen Stromausfall und dadurch verursachten Entschädigungsfällen den Kontakt eines vermeintlichen Gastes auf seinem Smartphone akzeptiert – und damit ungeahnt Tür und Tor für einen perfiden Hackerangriff öffnet. Erst empfängt Lukas rätselhafte E-Mails und unbestellte Pakete, dann meldet sich eine angebliche Geliebte bei seiner Ehefrau und seine Familie wird bedroht. Dass es sich um einen gravierenden Identitätsdiebstahl handelt, wird spätestens klar, als Lukas selbst unter Verdacht gerät, einen Terroranschlag vorzubereiten, und vom Hacker gezwungen wird, ein Paket nach Frankfurt zu transportieren. Dort trifft er auf die Journalistin Lena, die offenbar Opfer desselben Hackers ist. Gemeinsam machen sie sich auf die lebensgefährliche Jagd, um die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.
Das Drehbuch – vom renommierten Autorentrio Hanno Hackfort, Bob Konrad und Richard Kropf vor rund zwei Jahren im Auftrag von Warner Bros. geschrieben, im Frühjahr 2016 dann unter Schweighöfers Ägide noch einmal beträchtlich überarbeitet – kommt vergleichsweise konventionell daher. Jedenfalls im Vergleich zu einem überaus komplexen Hacker-Thriller mit gesellschaftlicher Botschaft wie "Mr. Robot", an den man angesichts des Themas vielleicht denken muss, der als Serie allerdings bei genauerem Hinsehen auch völlig andere Ziele verfolgt. Für ein Lockmittel, das Amazon qua Auftrag den jungen deutschen (und internationalen) Mainstream erschließen soll, steckt genau die richtige Dosis Plakativität in den Büchern.
Das ist wohl gemerkt nicht mit Oberflächlichkeit zu verwechseln. Wenn Lukas Franke etwa – vom Hacker trickreich als offensichtlicher Bombenbastler vorgeführt – eine offizielle Gefährderansprache durch das LKA erhält, das ihn zwar mangels Beweisen noch nicht festnehmen kann, aber fortan ständig beobachten wird, dann ist die Relevanz des Gegenwärtigen greifbar. Überhaupt lässt der Stoff an vielen Stellen eine erkennbar präzise Recherche der Abgründe von Cybercrime und digitaler Manipulation aufblitzen.
Doch erst Schweighöfers Regie – in enger Zusammenarbeit mit DoP und Co-Regisseur Bernhard Jasper – macht aus einer soliden Vorlage ein begeisterndes Ergebnis. Das liegt vor allem an zwei wesentlichen Facetten seines zu Unrecht unterschätzten filmemacherischen Talents. Eine davon ist aus den einschlägigen Kino-Komödien hinlänglich bekannt: Schweighöfer versteht es wie wenige andere deutsche Regisseure, Stimmungen vom Bildschirm direkt in Herz und Bauch des Zuschauers zu verpflanzen. Das ist deshalb so nützlich, weil es im Vergleich zur herkömmlichen deutschen TV-Serie massenhaft Zeit und endloses Erklären spart. Wir fühlen auf einen Schlag, welche Fallhöhe im Set-up von "You Are Wanted" steckt, welches Glück die Hauptfigur zu verlieren, welche Hölle zu befürchten hat. Wir erfassen all das intuitiv, ohne zugetextet zu werden. Wie wohltuend.
Noch spannender ist die zweite Facette, weil Schweighöfer nie zuvor einen Thriller inszeniert hat. Hier kommt ihm seine Begabung zugute, als Entertainment-Macher nahezu jede maßgebliche Entscheidung aus der Perspektive des Entertainment-Konsumenten zu treffen. Und zwar ohne herablassende Distanz. Was würde mich fesseln und im Bann halten?, scheint sein Anspruch an sich selbst zu lauten, den er mit Referenzmaterial von "Staatsfeind Nr. 1" bis "24" angefüttert hat. So kommt es, dass Schweighöfer die Genre-Regeln des Conspiracy Thrillers aus dem Effeff beherrscht und die Erwartungen eines ebenso geschulten Publikums nicht unterläuft.
Auch in visueller Hinsicht markiert "You Are Wanted" maximale Distanz zum deutschen TV-Einerlei. Jaspers Kamera zeigt große Bilder und satte Farben auf Augenhöhe mit der Optik von US-Vorbildern und weiß die urbane Modernität Berlins stilprägend einzusetzen. Zudem bleibt die Kamera meist ganz dicht an den Charakteren. Schweighöfers Regie- und Schnittkonzept erweist sich hier als nicht egoistisch, weil er so nicht nur mit seinem eigenen Lukas Franke verfährt, sondern auch mit den beiden starken Frauenfiguren der Serie. Das haben Alexandra Maria Lara als Lukas' Ehefrau Hanna und Karoline Herfurth als Journalistin Lena redlich verdient. Beide verleihen ihren Rollen ein aktives, eigenständiges Profil. Schweighöfer selbst beweist schauspielerisch, dass er mehr Farben drauf hat als nur den liebenswert tollpatschigen Rom-Com-Helden.
Ganz am Ende wartet ein Kniff, der manchen Zuschauer dazu verführen könnte, mit dem Bingewatching noch einmal von vorn anzufangen, aus einer leicht veränderten Perspektive. "You Are Wanted" ist die erste deutsche Serie, die in über 200 Ländern gleichzeitig startet. Zusammen mit dem Exportschlager "Deutschland 83", dessen Fortsetzung bald ebenfalls bei Amazon landet, dürfte sie im Ausland den Eindruck erwecken, die hiesige Serienlandschaft sei auf einem guten Weg.
Die sechsteilige Thriller-Serie "You Are Wanted", produziert von Pantaleon Films und Warner Bros., ist vom 17. März an bei Amazon Prime Video abrufbar.