"Du sinkst tiefer und tiefer, immer tiefer, tiefer und tiefer, tiefer und tiefer und noch viel tiefer", sagt der Mann mit der Schmalzlocke auf der Glatze, und auch wenn das eine akkurate Beschreibung der Marktanteilsentwicklung von Deutschlands größtem Privatsender aus den vergangenen Jahren ist, kommt der Herr nicht etwa von der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung, sondern vom Fach. Jan Becker ist Hypnotiseur. Am Samstagabend hat er sein bislang vermutlich größtes Experiment gewagt und einige hunderttausend Zuschauer in einen tief entspannten Wachzustand versetzt, um sie glauben zu machen, sie sähen über dreieinviertel Stunden eine abwechslungsreiche Showunterhaltung.
Obwohl bei RTL ja bloß die Oliver-Geißen-Sendung "Schau mir in die Augen – Promis unter Hypnose" lief.
Eine Show, die einem Angst machen konnte: Angst nämlich, nie wieder aus diesem Wiederholungs-Loop rauszukommen, in dem die verdammte Promihypnose alle 20 Minuten wieder von Neuem losging. Die Anleitung zur Blamiervorbereitung war immer dieselbe: Füße fest auf den Boden, Hände auf die Knie, Augen zu, entspannt atmen, Quatschbefehl merken, "eins, zwei, drei – Augen auf", das Spiel beginnt!
Eine Show, die einem Angst machen konnte: Angst nämlich, nie wieder aus diesem Wiederholungs-Loop rauszukommen, in dem die verdammte Promihypnose alle 20 Minuten wieder von Neuem losging. RTL-Autohändler Jörg Krusche schmiss sich in Trance ins Bällebad, als sei es ein reißender Fluss, und tunkte seinen Schopf auf Stichwort in eine Mascarponeschüssel; Sportler Thomas Rupprath lag tiefenentspannt in einer Badewanne mit Eiswasser, das man ihm als angenehm temperiert beschrieben hatte; Dschungel-Star Joey Heindle sauste wie ein Derwisch durchs Studio, in der sicheren Annahme, eine ihm überall hin folgende Regenwolke überm Kopf zu haben; Schauspielerin Michaela Schaffrath schmierte sich Kakao ins Gesicht, weil sie ihn für Heilerde hielt; Rolfe Scheider bewarb sich mit "Silly Walks" für die Monty-Python-Nachfolge; und Oliver Geißen war felsenfest davon überzeugt, er "moderiere" den Abend.
Zwischendrin urigellerte sich Hypnochonder Becker ans Publikum ran, um den Leuten mit seinen Konzentrationsexperimenten die Hände zusammenzukleben und den Mittelfinger wachsen zu lassen, was vermutlich als Referenz an die RTL-Verantwortlichen für die mickerige Gage gewesen war.
Aber wer braucht schon Kohle, wenn er stattdessen Aufmerksamkeit haben kann. Beckers Botschaft jedenfalls schien ernst gemeint: Wer fest davon überzeugt ist, schafft mehr, als er glaubt. "Wir haben unsere Wirklichkeit im Griff – das ist Hypnose!" (Amazon mailt gerade, meine Bestellung des Jan-Becker-Buchs "Du kannst schaffen, was du willst: Die Kunst der Selbsthypnose" sei soeben versandt worden. Ich glaub eher, DAS war Hypnose.)
Es war, um fair zu bleiben, kein völlig verschenkter Abend. Immerhin glänzte die Show von Anfang an mit unbestreitbaren Wahrheiten. "Stell dir vor, du musst Dinge tun, die du nicht tun willst – und du hast keine Chance, etwas dagegen zu tun", tutete der Off-Sprecher, um die Zuschauer mit dem Prinzip des Abends vertraut zu machen. (Während ich nickend und leise in mich hineinkichernd an den Kollegen Hoff denken musste, der sich zur Ansicht der parallel laufenden Katzenberger-Trauung bei RTL II verpflichtet hatte.)
Keine fünfzehn Minuten dauerte es anschließend, bis die Promirunde auf dem Studiosofa das erste Mal weggepennt war und sich gegenseitig an den Schultern lag, weil Becker das so herbeigeschnipst hatte. Geißen bemühte sich zu versichern: "Da ist nix Fake. Das ist komisch, das ist wirklich so." Gerade den Zuschauern von RTL erklärt man das ja am besten öfter, die sind sowas nicht gewöhnt.
Deutlich problematischer war die Behauptung, die Sendung sei "das wahrscheinlich spannendste Experiment im deutschen Fernsehen der vergangenen Jahre – und wahrscheinlich auch das der nächsten Jahre".
Nicht, weil damit geklärt wäre, was wir von RTL bis 2021 zu erwarten haben. Sondern weil man schon den ersten Teil des Satzes selbst mit einer gehörigen Portion Vorstellungskraft so nicht stehen lassen kann: Mit "Schau mir in die Augen" hat Endemol Shine in erster Linie den Beweis erbracht, dass Hypnose-Kunststückchen nur bedingt abendfüllend sind, wenn die Zuschauer zuhause nicht wegpennen sollen, ohne dass vorher einer mit den Fingern schnipst.
Denn die von Becker bei den Promis unter Hypnose gesetzten "Trigger", also die zu erledigenden Kuriositäten, führten sofort nach Beginn jedes der völlig egalen Spiele dazu, dass die Szene nach wenigen Sekunden einem riesigen Bewegtbildwimmelbild glich. Bei dem man gar nicht wusste, wem man zuerst beim Blamieren zusehen sollte. Walter Freiwald, der sich seine Socken auszieht, um damit einen imaginär brandheißen Bisquitteig anzufassen? Rupprath beim sexy Palmentanz? Scheider, wie er im Erotikkino Patricia Blanco befingert?
Vorerst (und bis die Einschaltquote anderes vorgibt) besteht die Gefahr, dass sich der Abend in dieser Form wiederholen könnte. Hypnotiseur Becker berichtete zwischendurch, man habe sage und schreibe 40 Promis für die Vorbereitung eingespannt – und letztlich die zehn ausgesucht, die am schönsten in Trance zu versetzen waren. Das bedeutet: 30 Ersatzkandidaten stünden jederzeit für eine Fortsetzung zur bereit.
Das verbietet sich freilich, schon im Sinne der uns nachfolgenden Generationen. "Da werden Sie Ihren Kindern noch von erzählen", hatte Geißen zu Beginn des Abends gedroht. Aber das Fernsehen ist, wie Sie und ich nur zu gut wissen, ja nicht von unseren Eltern geerbt, sondern bloß von unseren Kindern geliehen. Und es wär' natürlich schon ganz gut, dafür zu sorgen, dass die den Mist am Ende auch wieder zurücknehmen.