Es ist das Jahr der bemerkenswerten Late-Night-Abschiede. Vor einem Monat trat in den USA bereits David Letterman nach mehr als 33 Jahren vom Bildschirm ab, in sechs Wochen verabschiedet sich Jon Stewart von der "Daily Show". Sechzehneinhalb Jahre wird er die Sendung dann moderiert haben, genau so lange wie Stefan Raab "TV total".
Die amerikanischen Sender CBS und Comedy Central wären im Traum nicht auf die Idee gekommen, die "Late Show" bzw. die "Daily Show" einzustellen, bloß weil ihre Moderatoren nicht mehr wollten. Die Nachfolger stehen bereits fest.
Warum sollte ProSieben auch nur eine Sekunde damit verschwenden, über eine Einstellung von "TV total" nachzudenken, wenn man die Zeit auch sinnvoll nutzen kann, zum Beispiel mit der Suche nach einem Nachfolger für Stefan Raab?
Denn mal ehrlich: Wie einzigartig und eng mit Raab verknüpft ist das Konzept von "TV total" in seiner heutigen Form noch? Stand-up mit Gags zum Tagesgeschehen, Talk mit Gästen, Einspielfilmchen, Unsinn im Studio, Musik… das kennen wir doch auch von woanders.
Die Kritik, dass Stefan Raab in seiner eigenen Sendung lustlos und oft geistig abwesend ist, ist seit Jahren im Umlauf. Warum sollte die Show plötzlich nicht mehr möglich sein, nur weil er ab Januar auch noch körperlich abwesend sein wird?
Mit Jan Böhmermann, Luke Mockridge und Pierre M. Krause gibt es drei Moderatoren, die im Wesentlichen bereits jetzt das gleiche Konzept am späten Abend moderieren und einfach nur den prominenteren Sendeplatz und Titel übernehmen müssten. Böhmermann wirkt, als fühle er sich in seiner ZDF- und ZDFneo-Nische sehr wohl und sieht sich mit Sicherheit nicht als Raab-Nachfolger. Mockridge wäre die bequeme, hausinterne Lösung; seine Sat.1-Sendung "Luke! Die Woche und ich" ist wie "TV total" eine Brainpool-Produktion. Krause wäre die etablierte Lösung: Seit zehn Jahren beweist er mit seiner wöchentlichen "latenight" im SWR Fernsehen, dass er über das Durchhaltevermögen verfügt, das für dieses Genre notwendig ist. Beide sind dem "TV total"-Publikum durch ihre Auftritte bei Stefan Raab bereits bekannt.
Ein neuer Moderator oder eine neue Moderatorin könnte der Traditionsshow - ja, wenn im Privatfernsehen heute noch eine Sendung aus den 90er-Jahren übrig ist, darf und muss man sie "Traditionsshow" nennen - sogar Aufwind geben. Schon jetzt ist "TV total" im Quotenaufwind. So gut wie in den ersten Monaten dieses Jahres lief es zuletzt 2007. In Raabs Abschiedsmonaten wird das Interesse kaum nachlassen. Diesen Schwung könnte ein Nachfolger, der womöglich sogar voller Lust und motiviert vor der Kamera steht, ab Januar mitnehmen und ausbauen.
Klar könnte ProSieben stattdessen auch einfach noch eine weitere Stunde am Abend kostengünstig und womöglich sogar quotenträchtig mit denselben Sitcom-Konserven füllen, die auch schon den Rest des Tagesprogramms verstopfen. Das wäre aber im Grunde das Signal: Wir haben aufgegeben. "TV total" als einzige klassische wochentägliche Late-Night-Show im deutschen Fernsehen ist schon lange als Imagefaktor viel wichtiger als als Quotenbringer. Die Fortführung dieses Showformats mit Live-Charakter würde zeigen: Hallo, hier ist noch jemand!
ProSieben verfügt mit "TV total" über einen Luxus, der wenigen anderen Privatsendern vergönnt ist: den Luxus einer seit 16 Jahren etablierten Marke und eines gelernten Sendeplatzes. Nicht an diesem Luxus festzuhalten, wäre fahrlässig und dumm.
Es ist also im deutschen Fernsehen das wahrscheinlichste Szenario.