Als RTL vor anderthalb Jahren die erste von zwei Jubiläumsshows zum 30. Sendergeburtstag aufzeichnete, stürmte Moderator Thomas Gottschalk beim Warm-up sofort ins Publikum und fragte in der ersten Reihe: "Seid ihr eine Familie? Wer ist die Mutter, wer die Tochter? Man verwechselt das so leicht." Da war der Abend eigentlich schon gerettet. Auch wenn er noch knapp sechs Stunden dauern sollte.
Als Olli Dittrich und Wigald Boning später "Zwei Stühle – Eine Meinung" wiederaufführten, lachte Gottschalk sich daneben kaputt. Er nannte Hella von Sinnen aus Versehen "Helga" und schämte sich den ganzen Abend. Als er Aufsager für die Werbepause einsprechen sollte, konnte er sich den Quatschtext auch bei der zehnten Wiederholung nicht merken: irgendwas mit "Promi-Polonaise". Und als der Satz im Kasten war, wiederholte er verächtlich: "Promi-Polonaise!" Kurz vor Schluss sang Vanessa Fergusson ein längst vergessenes RTL-Jubiläumslied, Gottschalk genehmigte sich einen Schluck aus der Champagner-Pulle, naschte von den Chips für die Showgäste und gab sie an seine Assistentin weiter, die sie wieder abstellen wollte. Gottschalk schüttelte den Kopf, zeigte ins Publikum und bat: Verteil mal.
Als die Sendung zu Ende war, entschuldigte sich beim Saal für die Länge ("Ihr habt zum Schluss besser durchgehalten als ich"), schüttelte Hände, ließ sich drücken und rauschte dann hinter der Bühne freundlich grinsend wie ein D-Zug tutend an den rausgehenden Zuschauern vorbei in die Garderobe.
Wer ihn auch nur ein einziges Mal live gesehen hat, der weiß, dass Thomas Gottschalk eine besondere Verbindung zu seinem Publikum hat. In seiner gerade erschienenen Biografie "Herbstblond" erklärt er auch, warum: "Obwohl ich gut alleine sein kann, brauche ich ein Gegenüber, um zu funktionieren. (...) Das geht im kleinen Kreis wie im großen, im Hinterzimmer wie vor der Fernsehkamera." Vor allem aber schreibt Gottschalk: "Ich mag mein Publikum." Das sei "keine Ranschmeiße", er sei sich einfach sicher: "Ich verdanke meinen Erfolg zu einem großen Teil der Tatsache, dass ich meine Zuschauer wirklich ins Herz geschlossen habe."
Und wenn es darauf im Fernsehen heute noch ankäme, könnte Gottschalk weiter der zufriedene Glückspilz sein, als der er vor fast dreißig Jahren auf die Bühne der einstmals größten Unterhaltungsshow Europas gestellt wurde. Aber so ist es nicht mehr.
Natürlich lässt sich "Herbstblond" in erster Linie als kleine Historie des deutschen Fernsehens lesen, voller Anekdoten (und ein paar kleinen Eitelkeiten), die ihr Verfasser aus seinem Gedächtnis kramt: wie das war, als Frank Elstner ihm in einem Hotelzimmer "Wetten dass..?" anbot; dass er sich von Helmut Thoma immer noch beschimpfen lassen muss, weil er seine RTL-Late-Night aufgegeben hat; wie er sich schämte, Wolfgang Lippert sein gerade erst vererbtes Showzuhause wieder wegzunehmen.
Gottschalk reflektiert aber auch erstaunlich offen darüber, ob heute im Fernsehen überhaupt noch Platz ist für einen wie ihn. Die "Spitzenposition, die ich gepachtet zu haben glaubte, war weg", schreibt er über die Zeit nach "Wetten dass..?", die er einerseits herbeigesehnt hatte, weil die Wetten nachließen, Stars schwerer zu bekommen waren und der Konkurrenzdruck mit jedem Jahr stieg. Andererseits hat Gottschalk sich selbst in eine Fernsehwelt entlassen, die nicht mehr nach den ihm bekannten Spielregeln läuft.
Dass er "unsanft in der Wirklichkeit des Tagesgeschäfts gelandet" sei, wie er schreibt, verrät aber mindestens genauso viel über ihn wie über das Medium selbst.
"Ich war so sehr zum Gesicht dieser Sendung geworden, dass ich mich auch als deren Gewissen verstand."
Gottschalk über "Wetten dass..?"
Im zweiten Teil des Buchs erzählt Gottschalk, wie er bei RTL eine Ausgabe von "Das große Klassentreffen" mit Gast Heiner Lauterbach moderierte, den er damit überraschte, mit seinen Kindeheitsidolen von Deep Purple spontan zusammen Schlagzeug spielen zu können. "Großes, emotionales Unterhaltungsfernsehen. Dachte ich", schreibt der Moderator – und dass er mit dieser Einschätzung "ziemlich alleine da" stand: "Meine Einschätzungen scheinen nicht mehr belastbar."
Es mag richtig sein, dass Show nicht mehr so funktioniert wie Gottschalk das gewohnt ist. Dass er so sehr mit seiner neuen Rolle fremdelt ("Was bleibt, ist die Frage, wo ich hingehöre"), liegt aber auch daran, dass es beim Fernsehen in leitender Position niemanden mehr zu geben scheint, der Stars wie Gottschalk dort hinzustellen weiß, wo sie am besten funktionieren.
Gottschalk war es gewohnt, den Freiraum zu haben, Gäste und Kandidaten auf der Bühne gut aussehen zu lassen – nicht selten auf eigene Kosten, wenn damit die Zuschauer daheim zu unterhalten waren. Inzwischen scheinen oft die Regeln eines Formats wichtiger zu sein als der, der mit ihnen umgehen muss. Es gibt weniger Star-Moderatoren, aber immer mehr vermeintliche Star-Formate. Und die, die Fernsehen machen, haben seltener ein Gespür dafür, die Show dem Talent eines Moderators anzupassen.
Womöglich ist das schon länger so, und Gottschalk hat es in seinem Samstagabendbiotop bloß lange nicht gemerkt. Dabei kommt er in Bezug auf Hans-Joachim Kulenkampff, dem er sich verbunden fühlte ("Die Show war Kuli, und Kuli war die Show") quasi zu demselben Schluss: Nach "Einer wird gewinnen" moderierte Kulenkampff eine zeitlang "Der große Preis" – und scheiterte, weil ihm die Regeln nicht so wichtig waren, wie sich die Zuschauer bei seinem Vorgänger Wim Thoelke daran gewähnt hatten. "Aus Kulenkampffs TV-Schicksal kann ich viel lernen, auch aus seinen Fehlern", meint Gottschalk im Buch – und merkt gar nicht, dass er die Fehler selbst schon gemacht hat.
Bei "Wetten dass..?" habe er sich nicht nur als Gesicht der Show gefühlt, sondern auch als deren Gewissen. Deshalb sei nach dem Unfall von Samuel Koch auch klar gewesen, dass er nicht einfach weitermachen könne. Eine nachvollziehbare und womöglich kluge Entscheidung.
"Während die Karawane des Schreckens an mir vorbeizog, verfinsterte sich meine Miene zusehends; ich saß erkennbar im falschen Film."
Gottschalk über seine Zeit beim "Supertalent"
Als er nicht mal ein Jahr danach jedoch als Juror beim "Supertalent" saß, war sein Talent dort gar nicht gefragt: "Das Format hatte bereits seine eigenen Gesetze entwickelt." Er habe "erkennbar im falschen Film" gesessen, schreibt Gottschalk und ärgert sich, "Kaiser Dieter" nicht mehr Kontra gegeben zu haben. Ebenso wurmt ihn, beim Vorabend-Experiment "Gottschalk live" im Ersten nicht konsequenter auf der Umsetzung seiner ursprünglichen Idee eines heiteren Vorabend-Talks bestanden zu haben – "nur um später nicht daran schuld sein zu müssen, mich verlaufen zu haben".
Es ist eine merkwürdige Naivität von einem Fernsehprofi wie ihm: erst nachher zu realisieren, was vorher ohne Mühe herausfindbar gewesen wäre. (Beim "Supertalent" hätte er ja bloß mal drei Sendungen am Stück ansehen müssen!) Das muss er sich vorwerfen lassen. Und das hat auch nichts damit zu tun, dass "die Ära des Fernsehens, in der ich ganz vorn mitspielen durfte, vorbei ist". Sondern bloß damit, dass niemand mehr gewohnt ist, dem Moderator etwas nachzutragen, das der nicht einfordert. (So gruselig es sein mag: genau darauf beruht vermutlich der anhaltende Erfolg von Dieter Bohlen.)
Im Grunde genommen hat Thomas Gottschalk es sich, allen Unbequemlichkeiten beim dauerbeobachteten "Wetten dass..?" zum Trotz, im Fernsehen ein Stück weit zu bequem gemacht. Und das Fernsehen hat vergessen, dass es Leute wie ihn braucht, die das Publikum als Verbündeten sehen und nicht als Klatschkulisse. Moderatoren, die Regeln allenfalls benötigen, um sie zu brechen.
Es wäre höchste Zeit, sich im Interesse der Zuschauer endlich wieder daran zu erinnern.
"Herbstblond - die Autobiographie" ist bei Heyne erschienen; 368 Seiten, 19,99 Euro.