Wir haben gewartet. Monate lang. Auf diesen einen Tag. Auf "die gewaltigste Herausforderung der Fernsehgeschichte" und 15 Menschen, die etwas Einzigartiges wagen wollen, etwas Unfassbares. An einem der unwirtlichsten Orte, die es gibt im deutschen Fernsehen. Die Quotenbegrünung des Vorabendprogramms von Sat.1! Wir haben gewartet auf – "Newtopia".
Stattdessen ist am Montagabend aber bloß eine Zusammenfassung davon gelaufen, wie ein motziges Trüppchen Abenteuerlustiger nach tränenreichem Familienabschied erst in ihr neues Zuhause ein- und dann gleich wieder ausziehen muss. Nämlich um in produktplatzierten Kompakt-SUVs hunderte von Kilometern durch schöne Autobahnwinterlandschaften zurück nachhause, Pardon: in die "alte Welt" gefahren zu werden, dort die Familie vom Abendbrot wegzuklingeln und in nur 15 Minuten eine mitgebrachte Kiste mit Zeugs vollzustopfen, das man halt so braucht, wenn man ein Jahr lang im Fernsehen leben will. Schlüpfer, Alkohol, Toilettenpapier.
Insofern war es ein Anfang, der vielleicht nicht ganz den geweckten Erwartungen entsprochen hat. Und zu dem man Sat.1 trotzdem irgendwie gratulieren kann, weil sich das Ganze, wie sonst üblich, natürlich auch auf eine abendfüllende Primetime-Show hätte strecken lassen, bei der am Ende auch nicht mehr Inhalt herausgekommen wäre.
Jetzt haben wir's hinter uns. Die vermutlich teuerste Wette der jüngeren Sat.1-Sendergeschichte hat nicht als Revolution begonnen. Sondern eher als eine Art Gameshow-Wettstreit im Zusammenkratzen von Habseligkeiten, die das Leben auf dem bis auf die Vollverkabelung sehr naturbelassenen 20.000-Quadratemeter-Grundstück im Brandenburgischen zumindest etwas angenehmer gestalten sollen.
Es war vor allem die Stunde der Mütter. "Mama, die Zahnbürste!", kommandierte Handwerker Lennert beim Überraschungskurzbesuch daheim, während er die Schaufel mit der Kettensäge auf Kistenformat zurechtformatierte. "Mama, schneller!", feuerte Model Diellza ihre Erzeugerin beim Schlafsackholen aus dem Keller an. Und der studierte Wohnungslose Candy fand beim Vorratsplündern im Elternhaus noch Zeit, seinen Arbeitsauftrag im letzten Moment höflichkeitszuverkleiden: "Mutti, kannste mir noch Nähzeug geben? Bitte." Konnte sie, ja. Und wünschte ihrem 44-jährigen Sohn dann nicht nur einen "schönen Aufenthalt", als käme er die Woche drauf aus dem Landschulheim zurück, sondern hatte auch noch einen Kleeblattglücksbringer parat: "Viel Glück 2015".
Das können sie wirklich alle gut gebrauchen, die Kandidaten genau wie der Sender, der sich von dem Experiment verspricht, in den kommenden 364 Tagen eine Soap erzählen zu können, die das Leben schreibt. Damit das nicht wieder irgendwelche Autoren erledigen müssen, deren Ergebnis die Zuschauer dann so gnadenlos ignorieren wie die letzten Sat.1-Versuche, in der Stunde vor den Nachrichten nicht immer bloß Konserven auszustrahlen.
Ob das gelingt, lässt sich nach der Auftaktsendung beim besten Willen nicht sagen. Das Team scheint ganz clever ausgesucht zu sein: Architekten, Hartz-IV-Empfänger, eine Aldi-Kassierin, ein Key-Account-Manager. Die ersten haben sich schon als kernige Handwerker und Landwirte vorgestellt, ein paar Träumer und ein Faulenzer sind dabei, und daheimgebliebene Freundinnen werden auch schon stark vermisst. Welche Geschichten aus "Newtopia" erzählt werden, kann man sich also ganz gut ausmalen, auch ohne dafür beim Fernsehen arbeiten zu müssen. Den vorprogrammierten Stunk vielleicht sogar noch besser.
Lenny hat sich gleich mit Hans angelegt, weil der, statt was für die Gemeinschaft einzupacken, ankündigte, seine Jogginghose mitzunehmen. Und Buchhalterin Kerstin hat nach 30 Minuten die Schnauze voll von den ersten Leuten ihrer neuen Gemeinschaft und flüsterte daheim in Bayern dem minderjährigen Töchterchen nach dem Kistenpacken vertrauensvoll ins Ohr: "Meine schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen." Damit sich die Kleine auch keine Sorgen macht, wenn Mama weg ist.
Am Ende blieb gerade noch genügend Zeit, um zu zeigen, wie alle Newtopianer in ihrem selbst gewählten Zuhause wieder ankommen, rumliegen, sich eine provisorische Toilette zusammenbauen und sich in "Entdeckerlaune" große Vorbilder suchen: "Wie heißt der nochmal, der mit'm Schiff durch die Gegend geeiert ist?" – "Columbus?" – "Genau!"
Für die ersten 60 Minuten war das alles ein bisschen viel. Zu viele neue Leute mit zu vielen Charaktereigenschaften, die der Sender schon mit süffisantem Off-Kommentar holzschnittartig herausschnitzen wollte. Zuviel Abschied, zuviel Wiedersehen. Und zu wenig Überblick, was denn jetzt eigentlich passieren soll in den kommenden Tagen. Wenn alles gut geht, wird es "vollkommenes Glück oder totales Chaos", und bis sich abzeichnet, in welche Richtung die Show abbiegt, werden wohl noch ein paar Sendungen vergehen. Für die Dienstags-Zusammenfassung hat Sat.1 schon mal Nacktbaden, eine erste Krisensitzung und "Tränen der Sehnsucht" angekündigt – alles also, was auch bei anderen TV-Formaten immer ganz gut zieht, die sich dieser Dings ausgedacht hat. Wie heißt der Holländer nochmal, der immer mit Einsperrshows durchs Fernsehen eiert?
Denn am Ende ist "die gewaltigste Herausforderung der Fernsehgeschichte" natürlich nicht die, einer Handvoll Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich in einem Waldstück bei Minusgraden im Februar gegenseitig auf den Füßen steht – sondern daraus sehenswerte und nachvollziehbare Geschichten fürs Publikum zu machen. So trällert's ja auch die Frau im "Newtopia"-Vorspann: "Is it heaven or ist it hell? Let's make a story to tell." Und zwar jeden Tag wieder. Na dann: Viel Glück 2015!