Was dann aus der Vielzahl an Twitter-Reaktionen auf eine Nachricht oder TV-Sendung herausgesucht wird, ist aber selten bis nie ein ausgewogenes Stimmungsbild. Schließlich rätseln Fernsehsender, Verlage und Onlinemedien bis heute gleichermaßen noch immer über einen geeigneten Umgang mit der Masse an Feedback, die sich selten überhaupt und noch seltener zeitnah so aufbereiten lässt, dass es mehr ist als eine nicht aussagekräftige Ansammlung von Einzelmeinungen. Es liegt also in den Händen eines Redakteurs durch seine Auswahl das vermeintliche Stimmungsbild des Publikums zu erschaffen. Wenn man sich den von Schweiger kritisierten Artikel wie auch manch andere kuratierte Tweet-Sammlung anschaut, dann sind jedoch pointierte Formulierungen das Kriterium für eine Berücksichtigung.
Gut ist, was witzig, derbe oder zumindest kreativ ist. Eigentlich aber gilt: Je gehässiger, je besser. Wer aber nicht richtig böse ist oder am anderen Ende des Spektrums in den Himmel lobt, wird mit seinen Tweets seltener berücksichtigt. Bittere Konsequenz der so kultivierten Zuspitzung: Das Kuratieren von Tweets wäre theoretisch eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die sich inzwischen aber für die nahe Zukunft erst einmal erübrigt. Zu viele Medien haben zu leichtfertig Tweets benutzt um Stimmungen zu erzeugen, so dass die Meinungen aus dem Netz ausgerechnet von denen abgewertet wurden, die sie zu Wort kommen lassen wollten. Wenn also Christian Buß Til Schweiger antwortet, dass man mit den Tweets nur Zuschauermeinungen artikulieren wollte, dann fehlt dabei die Erkenntnis, dass es immer eine bewusste redaktionelle Auswahl ist. Und man sich für diese nicht der Verantwortung entziehen kann.
Noch dazu aber kommt die zweite Ebene des Irrtums: Die Annahme, das ein Meinungsbild bei Twitter mehr oder weniger automatisch einem Meinungsbild einer größeren Masse entsprechen würde. Twitter ist in Deutschland nach wie vor ein Nischenmedium. Wenn sich am Tag der Bundestagswahl wenige zehntausend Menschen via Twitter austauschen, dann ist dies eben angesichts der Bevölkerungszahl Deutschlands doch noch ausbaufähig, um es freundlich zu formulieren. Twitter ist im begrenzten Rahmen ein Indikator, wird von der Informationselite gerne genutzt und ist ohne jeden Zweifel eine effektive Kommunikationsform für mitteilungsbedürftige Privatpersonen wie auch Medien bzw. Unternehmen. Aber das, was viele Journalisten in Twitter sehen, ist es eben nicht: Ein ansatzweise repräsentativer Meinungsspiegel. Eben auch weil die Benutzung von Twitter in zu vielen Redaktionen bislang nur auf das Herauspicken von besonders knackigen Tweets für schnelle Storys reduziert wird.
Unabhängig von der Frage, welche Tweets ein Redakteur heraussucht, stellt schon die Grundlage nur einen Ausschnitt etwa der Publikumsmeinung eins "Tatort" dar. Leichtsinnigerweise könnte man das Problem belächeln. Was spricht schon gegen eine Ansammlung lustig zu lesender Tweets? Sie sorgen doch schließlich für schnelle Lacher oder mindestens Schmunzler - und bescheren auf einfache Art und Weise die von Online-Medien so heißbegehrten Klicks. Alles ganz harmlos, oder? Nein, ganz und gar nicht. Weil auf diesem Wege per se nicht repräsentative Meinungen (erstes Problem) von einem Redakteur zu oft nicht ausgewogen zusammengestellt wird (zweites Problem).
Bei Kritik am „Tatort“ ist das noch vergleichsweise belanglos. Bei anderen Themen bereitet diese selbstverständlich gewordene, selten analytische Auswertung von Tweets Sorgen. Journalisten sollten das von Ihnen selbst so gern genutzte Medium Twitter mit etwas mehr Distanz nutzen. Das technisch mögliche Leser- oder Zuschauerfeedback ist nicht zwangsläufig das inhaltlich wertvolle. Das zu bedenken wäre für Journalisten nicht wichtig, weil man damit Til Schweiger einen Gefallen täte, sondern sie sich selbst. Über die schnoddrige Art der Äußerung eines Til Schweigers brauchen wir nicht reden. Die macht ihn nicht sympathischer. Aber seine Kritik an der selektiven Wiedergabe von zugespitzten Einzelmeinungen als vermeintlich repräsentatives Urteil des Publikums hat einen wahren Kern.