Mit ihrer zerklüfteten Küste, dem oftmals nebligen Watt und den hügeligen Wäldern im Landesinneren stellt die Bretagne eine perfekte Heimat für Mythen und Sagen dar, die dem keltischen Erbe entspringen und seit Jahrhunderten überliefert wurden. Eine – je nach Geschmack – besonders faszinierende oder besonders gruselige Gestalt dieser Sagen ist der "Bugul-Noz", der Hirte der Nacht, ein Waldgeist mit glühenden Augen, der nach Einbruch der Dunkelheit erscheint und den Übergang zwischen der Welt der Lebenden und der Geister kontrolliert.
In "Anaon – Hüter der Nacht" wird jene Figur zum Leben erweckt, als eine Teenagerin in den ersten Minuten der Serie auf ihrem nächtlichen Heimweg spurlos verschwindet, nicht ohne zuvor von bedrohlichem Pfeifen und Lichtflackern maximal verängstigt zu werden. Dass hier ein Mystery-Thriller seinen Lauf nimmt, ist also schon vor dem Vorspann klar. Die zweite, mindestens ebenso starke Komponente tritt gleich danach in Erscheinung: ein sensibel erzähltes Familiendrama, das eine innige Vater-Tochter-Beziehung nach dem Tod der Mutter auf die Probe stellt.
Max (Guillaume Labbé), der Chef der örtlichen Gendarmerie, und seine Tochter Wendie (Capucine Malarre), kehren einen Monat nach dem schlimmen Verlust wieder in den Alltag zurück. Mit dem verschwundenen Mädchen sind beide befasst: Max untersucht den mutmaßlichen Tatort und verhört Verdächtige, während Wendie von ihrer Großmutter im Seniorenheim rätselhafte Hinweise erhält. Als sie abends am Lagerfeuer mit ihren Schulfreunden Wiedersehen feiert, greift plötzlich eine riesige Schattenkreatur mit Hörnern die Jugendlichen an. Scheinbar intuitiv breitet Wendie ihre Arme aus und wehrt das Wesen mit einem Kraftfeld ab, nachdem dieses einen Jungen ergriffen hat.
Sowohl das verschwundene Mädchen als auch der angegriffene Junge werden im Wald gefunden – weitgehend unverletzt und doch in einem tranceartigen Zustand. "Als wären ihm die Gefühle geraubt", sagt die Ärztin. "Wäre ich religiös, würde ich sagen: die Seele." Während immer mehr Dorfbewohner verschwinden und Max nach rationalen Erklärungen sucht, entdeckt Wendie das Mysterium ihrer Familie: Wie ihre Mutter und Großmutter ist sie eine Nachfahrin der Druiden und hat übernatürliche Kräfte. Nur sie kann den Hüter der Nacht aufhalten und muss sich auf einen großen Kampf vorbereiten.

Wenn die Studio Hamburg Serienwerft mit französischen Partnern koproduziert, dann kann bemerkenswertes Fernsehen dabei herauskommen – wie vier Staffeln der mehrfach preisgekrönten Polit-Comedy "Parlament" bewiesen haben. Nun in ein völlig anderes Genre zu wechseln, ist durchaus mutig. Anders als bei den dysfunktionalen Politikern im EU-Parlament drängen sich für die bretonische Sage kein deutsch-französisches Autorenteam und kein grenzübergreifendes Schauspielerensemble auf.
Zum Glück war die deutsche Seite klug genug, Creator Bastien Dartois ("Panda"), Regisseur David Hourrègue ("Skam France") sowie den herausragenden Cast um Labbé und Malarre einfach machen zu lassen. Der Sechsteiler, der Anfang April auf Prime Video in Frankreich Premiere feierte und später auch dort ins öffentlich-rechtliche Fernsehen kommt, ist dadurch ein ebenso authentischer wie origineller Genremix geworden.
Die Motive der familiären Trauer, der emotional herausfordernden Neuordnung zwischen den verbliebenen Angehörigen und der mit dem Coming-of-Age verbundenen Übernahme von Verantwortung beleuchtet "Anaon" durch die Mystery-Brille und schafft es, dass beide Teile nahtlos ineinandergreifen. Trotz gewisser Anklänge an einschlägige Genrereferenzen wie "Stranger Things" oder "Der Greif" sorgen die starken Charaktere und die lokale Verwurzelung für eine große Eigenständigkeit. Dass bretonische Folklore und Mythologie nicht bloß oberflächlich ausgenutzt, sondern geschickt zur Metapher für Trauer, Schuld und Vergebung verknüpft werden, macht die Serie besonders sehenswert.
"Anaon – Hüter der Nacht“, in der ARD-Mediathek sowie am 28. April um 21:45 Uhr (Folgen 1-3) und 5. Mai um 22:05 Uhr (Folgen 4-6) auf One