Es gibt kaum Gliedmaßen, die das Fernsehen – mal abgesehen vielleicht von Geschlechtsteilen – seltener in Großaufnahme zeigt als Füße. Schon gar nicht solche, an denen Kathi ständig herumschnippelt. Es sind ädrige, schwielige, rissige, faltige, verhornte Quanten, die in Lillys „Beauty Oase“ renoviert, besser noch: reanimiert werden. Vom Leben tief gezeichnete Extremitäten. Und sie erinnern irgendwie ans ädrige, schwielige, rissige, faltige, verhornte Wohnquartier, durch das sie seit Jahrzehnten bereits laufen.

Für Außenstehende der Inbegriff urbaner Verwahrlosung, findet Clara Zoë My-Linh von Arnim es allerdings so reizvoll, dass der Titel ihrer ARD-Serie nicht nur für Fußfetischisten zur erogenen Zone wird: „Marzahn Mon Amour“. Ungefähr so, wie sie die jüdische Feinkostsippe „Zweiflers“ durchs Frankfurter Bahnhofsviertel begleitet – und dafür gerade den Grimme-Preis erhalten hat – folgt die deutsch-vietnamesische Regisseurin jetzt einer prekären Kosmetiksippe durchs Berliner Plattenbauviertel. Und die Herzenswärme, mit der ihr Drehbuchtrio Leona Stahlmann, Niklas Hoffmann, Antonia Rothe-Liermann Katja Oskamps autobiografischem Roman adaptieren, gleicht einer echten Liebeserklärung.

Trotz allem.

Kathis Marzahn, wo sie mit 44 nochmal einen Neuanfang wagen muss, wird schließlich sechsmal 25 Minuten praktisch nirgends weichgezeichnet. Als ihr Mann Heiko (herrlich linkisch: Holger Bülow) die erfolglose Romanautorin Hals über Kopf verlassen und fast alle elektrischen Geräte mitgenommen hat, plant auch noch Tochter Lilly (Maja Bons) das Hochhaus Richtung Australien zu verlassen. Klingt nach einer Abwärtsspirale, die deutsche Problemfilme und -serien gern mit einer Viertelstunde Friede, Freude, Eierkuchen eröffnen, um den anschließenden Stimmungsabfall emotional aufzuladen.

Damit allerdings hält sich die von UFA Fiction produzierte Serie nicht lange auf. Schon zum Einstieg erzählt uns Kathi aus dem Off, „ich trage etwas Bitteres vor mir her: Die Unsicherheit der Frauen ab 40“ – dann stellt sie sich im Nagelstudio von Jenny (Yvonne Yung Hee Bormann) und Lulu (Deborah Kaufmann) vor, klettert nominell also drei Karrierestufen abwärts. Doch ausgerechnet beim Schneiden eingewachsener Zehennägel entdeckt die Quereinsteigerin, dass es menschlich vier Sprossen aufwärts geht. Dabei löst gleich ihr erster Kunde Fluchtinstinkte aus

Aber ber kaum, dass der ehemalige SED-Blockwart Eberhard (Hermann Beyer) nach mürrischer Zurechtweisung übers korrekte Verwenden des Wortes „Entschuldigung“ seine alten Füße in Kathis Laugenwanne steckt, entfaltet „Marzahn Mon Amour“ das, was der Titel verheißt. Bis auf ihre Nachbarschaft haben diese zwei Mitglieder getrennter Generationen und Denkschulen zwar wenig gemeinsam. Um charakterliche Unebenheiten abzuhobeln wie den Schorf von Hermanns Ferse, reicht das allerdings dicke. Man muss es nur spüren, um es zu spielen.

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Wenn sie aufs Wende-Gejammer des abgewirtschafteten Stasispitzels entgegnet, „aber mit der Nagelstruktur ham’se Glück, die ist nämlich noch richtig fest“, bringt Kathie die Lakonie baugleicher Biografien nicht nur schauspielerisch auf den Punkt; ihre Darstellerin profitiert spürbar davon, dass Jördis Triebel Ende der Achtziger ebenfalls im größten DDR-Wohnkomplex aufgewachsen ist. Dieses melancholisch-trotzige Herkunftsbewusstsein trägt die Serie fast allein durch alle Selbstfindungsphasen.

Und so sehen wir ein, zwei wiederkehrende Begegnungen andersdenkender, ähnlichtickender Figuren pro Folge, die ihr Schicksal in größter Dringlichkeit an ziemlich kleine Glocken hängen. Oder wie es Frau Nocke (Monika Lennartz), die mit 85 offenbar von ihrer resoluten Tochter (Katrin Heller) aufs Altenteil geschoben wurde, im Tonfall hellsichtiger Genügsamkeit ausdrückt: „Ick sitze hier einfach rum und warte“. Diese Hommage ans Sanierungsbedürftige der Selbstoptimierungsgesellschaft muss den Vergleich mit Milieustudien diesseits vom Kill Thrill à la „4 Blocks“ oder Knallhart“ daher nicht scheuen.

Wie Andreas Dresens Wohnturm-Melodram „Halbe Treppe“, in dem er 2002 die Ostberliner Mischung aus Resilienz und Renitenz skizzierte; wie Robert Thalheims Vater-Sohn-Annäherung „Netto“ drei Jahre später im damals noch räudigen Prenzlauer Berg, wie zuletzt auch David Wnendts Verfilmung von Felix Lobrechts Neuköllner Coming-of-Age-Ballade „Sonne und Beton“ – Clara Zoë My-Linh von Arnim zeigt ungeschminkte Unterschichtexistenzen, die nicht zufällig im Schönheitssalon nach Aufwertung suchen. Dort, wo ihre Fortschrittsverlierer auf der Fortschrittsverliererstraße zumindest äußerlich etwas Würde wahren.

Wenn uns einige davon aus dem Off Kalendersprüche wie „Marzahn ist nicht grau, es ist ehrlich“ ins Gemüt cremen, hebt zwar auch die ARD schon mal mahnend den Zeigefinger öffentlich-rechtlicher Fernsehdidaktik. Dank des wunderbaren Ensembles um Kathis Kollegin Lulu jedoch, der Deborah Kaufmann hinreißende Authentizität verleiht, stört er fast so wenig wie der fürchterliche Fliesentisch, den Heiko in der halbleeren Wohnung mit Blick über ganz Marzahn gelassen hat – ein Viertel, so geschunden schön wie alte Füße, die dort mit aufrechtem Kopf darüber herumlaufen.

Sechs Folgen von "Marzahn Mon Amour" stehen ab dem 14. März in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Im Ersten laufen sie am 21. März ab 23:50 Uhr.