Mit Sirenen durch die Stadt, unter Zeitdruck und in Unkenntnis dessen, was sie dort erwartet, wo sie gebraucht werden. Notärzte im Rettungswagen sind die erste Front im Kampf zwischen Leben und Tod. Wir sehen die junge Olivia (Samirah Breuer) und den aus Erfahrung zynisch gewordenen Olaf (Bernhard Schütz) unterwegs auf der Überholspur zur Konfrontation mit dem Ungewissen. Doch das, was woanders dramatischer Höhepunkt wäre, ist bei „Krank Berlin“ Ruhepol. Nichts ist gewöhnlich an dieser Serie zwischen Fiebertraum und Drogenrausch, die nach dem Ausstieg von Sky ab heute bei AppleTV+ Premiere feiert und später auch bei ZDFneo zu sehen sein wird. 

Das Genre verleitet wahrlich schnell zu Vergleichen. Eine Krankenhausserie! Da kommen  - je nach Alter - deutsche Produktionen wie „Schwarzklinik“ und „In aller Freundschaft“ in den Sinn, oder aber amerikanische Kultserien wie „Emergency Room“, „Dr. House“ oder „Grey’s Anatomy“. Keine davon aber ist geeignet um „Krank Berlin“ zu verorten. Nicht oft kann man einer Serie attestieren, dass sie ein Genre neu erfindet. Noch etwas seltener einer deutschen Serien. Aber das, was die Erfinder der Serie - Viktor Jakovleski und Samuel Jefferson, selbst ehemaliger Notfallmediziner - hier mit einem Writers Room zusammen geschrieben haben, ist keine Antwort auf eine der genannten Serien; viel mehr ein neues Kapitel, das auf bekannte Rezepte anderer Produktionen des Genres verzichtet. 

In den acht Folgen der von Violet Pictures und Real Film Berlin produzierten Serie gibt es weder den klassischen Case-of-The-Week, noch verfällt die Serie ins Muster einer RomCom am Arbeitsplatz oder dreht sich um eine titelgebende Ikone im Cast. Es gibt keine Schablone, die hier passt. Stattdessen wirft die Serie das Publikum zusammen mit der Internistin Zanna Parker (Haley Louise Jones) auf verstörende Weise ins Chaos der Notaufnahme des Krankenhauses Neukölln in Berlin. Parker ist aus privaten Gründen von München in die Hauptstadt gezogen, um die Leitung der Notaufnahme zu übernehmen, die ihrem Klinikchef (gespielt von Peter Lohmeyer) ein Dorn im Auge ist, weil sie für nichts als Ärger und Kosten sorgt. Zanna will das ändern und eine für das Genre eher untypische horizontale Erzählung beginnt. 

Krank Berlin © Apple / ZDF Zanna (Haley Louise Jones) und Emina (Safak Sengül)

Sie will die Anarchie in der Notaufnahme ordnen, übersieht dabei aber dass sich das Chaos eigene Regeln geschaffen hat, welche in Abwesenheit von offizieller Führung von Ärztin Emina (Safak Sengül) bestmöglich jongliert wurden. Dass diese nun nicht mehr gelten sollen, sorgt für Unmut. Ein neues Konzept für die Patientenaufnahme? Eine Dokumentation der Arbeit? Vier-Augen-Prinzip? Und dann wird auch noch der Betäubungsmittelschrank verschlossen, an dem sich Chirurg Ben (Slavko Popadić) mal aus Eigenbedarf, mal zur Behandlung undokumentierter Patienten bedient. Rückendeckung bekommt Zanna eigentlich nur von Dom (Aram Tafreshian), einem smarten jungen Arzt, der jedoch eigentlich längst versetzt werden wollte. Nun muss er bleiben. 

Was die Serie neben dem Fehlen üblicher Strukturen des Genres so besonders macht, ist die Inszenierung: Notaufnahme in Nahaufnahme, rastlos gefilmt und das in einer Farbwelt, die „Krank Berlin“ in einem Licht erscheinen lässt, das nicht weiter entfernt sein könnte von Göttern in weiß. Und dann der Sound, der das Ertrinken im Chaos hörbar macht. Nein, hier gilt: Krankenhaus ist Krieg. Harte Bilder, schonungslos - ob bei Fehlgeburt oder Drogenmissbrauch. Hier wird nicht weggeschwenkt im Kampf ums Leben der Patientinnen und Patienten einerseits, aber auch untereinander - wenn es um Akzeptanz, Vertrauen und Verantwortung geht. Die Regie der acht Folgen haben sich Fabian Möhrke und Alex Schaad geteilt, wobei insbesondere die ersten vier Folgen von Möhrke mit einer selten gesehene Dichte begeistern. Bei „Krank Berlin“ scheint niemand jemals zur Ruhe zu kommen, zumindest anfangs.

Krank Berlin © Apple / ZDF Ben (Slavko Popadic) und Zanna (Haley Louise Jones)

Die Serie beginnt wie unter einem Brennglas, wortwörtlich dreht sich alles in der Notaufnahme in einem Tempo, das schwindelig macht. Im zweiten Teil der Staffel unter Führung von Alex Schaad öffnet sich „Krank Berlin“, lässt den Charakteren, Storylines und übrigens auch Berlin mehr Raum. Doch eins bleibt lange erhalten: Das Rätsel um die Motive und Geheimnisse der Figuren. Wenn gleich ein gänzlich anderes Genre, erinnert die stetige Dynamik und wechselnden Sympathien mit dem Ensemble an „Succession“: Kaum eine der Figur lässt eine Identifikation zu, viel mehr stellt man sich in jeder Folge die Frage: Wen misstraut man gerade am wenigsten? Dabei hilft auch das hervorragende Casting, weil einerseits der Verzicht auf allzu prominente Köpfe mehr Freiraum zur Projektion gibt und zweitens der Cast die reale Diversität im Gesundheitswesen spiegelt.

„Krank Berlin“ ist ein stimmiges Konzert der Gewerke, mal sehr fein, mal echt brutal. Eine Serie, die in ihrem Genre probiert, was so selten zu sehen war: Der Mut zu einer horizontalen Story und einer harten Bildsprache, die sehr schnell deutlich macht: This is not your mummys medical. Für AppleTV+ ein kluger Schachzug, hier einzusteigen. Diese Serie beweist mehr Mut als der erste deutsche Serienaufschlag des Streamers. Und wenn dann am Ende der Staffel von "Krank Berlin" alles völlig eskaliert, wird eine zweite Staffel fast unabdingbar. Gut, dass die Serie von einer neuartigen Partnerschaft zwischen AppleTV+ und ZDF getragen wird. Möge sie die Kraft für eine Verlängerung haben.