Vor mehr als zwanzig Jahren fanden Castingshows für Musiktalente ihren Weg ins deutsche Fernsehen, doch die Karriere-Versprechen von „DSDS“, „Star Search“, „Supertalent“, „Popstars“ und Co. verpufften schnell, oft wurden Heldenreisen zum eigentlichen Star der Shows und aus Talentwettbewerben damit Realitysoaps.  „The Voice of Germany“ brachte nochmal frischen Wind, konnte das Kernversprechen des Genres aber auch nicht wiederbeleben.

Mit dem Auftakt seiner „Chefsache ESC 2025“ hat Stefan Raab am Freitagabend bei RTL bewiesen, dass Castingshows spannend sein können - wenn es zur Abwechslung auch um etwas geht. Und allen Unkenrufen und Diskussionen über Geschmack zum Trotz bleibt das Spektakel des Eurovision Song Contest nun einmal die größte musikalische Bühne der Welt. Innovation ist einmal mehr nicht der richtige Maßstab für Raab, weil es die hier gar nicht brauchte. 

Er konnte einmal mehr eine Idee recyceln, weil sie zu lange liegen gelassen wurde. Den deutschen Acts für den ESC mangelte es zuletzt oft an Identifikationspotential. In den vergangenen Jahren gab es ein einzelnes deutsches Finale, noch dazu versteckt am späteren Abend. Allenfalls noch eine Verlängerung ins Netz, doch auch dort weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das alles reichte nicht. Stefan Raab weiß halt: Populär werden kann nur, wer auch bekannt wird. 

Barbara Schöneberger © RTL

Eine Heldenreise über vier Sendungen zur besten Sendezeit und die gemeinsame Reichweite über alle Plattformen von ARD und RTL hinweg fördert das Identifikationspotential über 16 Tage. Eine „große Koalition“, wie es Barbara Schöneberger zum Auftakt der Show nannte. „Ganz ohne Brandmauer - sie können entspannen.“ Traute man sich in den Vorjahren nicht einmal zu blinzeln, um den Vorentscheid nicht zu verpassen, ermöglicht „Chefsache ESC 2025“ einen Diskurs über Talent und Stil, Aufreger und Favorit*innen.

Gleichermaßen routiniert wie schlagfertig führte Barbara Schöneberger als schlagfertige Konstante beim deutschen Vorentscheid durch den von Stefan Raab konzipierten Abend in einem gelungenen Studio-Set. Als der sich bei Kandidat Jonathan Henrich sicher war, dass jüngere Frauen ihn geil finden könnten, konterte Schöneberger: „Alte auch.“ Raabs Jury-Kollegen Elton stellte Schöneberger vor mit den Worten: „Wir sind beide Moderatoren - und Plus-Size-Models.“

Raabs Werk und Schönebergers Beitrag: Flott und frotzelnd

Ebenfalls in der Jury: Eine am Freitag zumindest weitgehend unauffällige Yvonne Catterfeld und als Gast-Juror diesmal Max Mutzke. Der Ablauf des Abend: Gradlinig, man möchte fast schon sagen flott. Einerseits, weil Barbara Schöneberger nach den Auftritten eben nicht immer alle aus der Jury zu Wort kommen ließen - und am Ende des Abends die Bekanntgabe der Juryentscheidung nicht einmal 0,1 Schreyl dauerte.

Chefsache ESC 2025 © RTL

Das Publikum, ob im Studio auf dem EMG-Gelände in Hürth oder vor den Bildschirmen, war am Freitagabend übrigens genau das: Ein Publikum. Abgestimmt werden konnte noch nicht. Das war Chefsache - mehr oder weniger in Abstimmung mit seiner Jury. Und doch macht das mehr Sinn als ein Publikumsvoting, weil neben absoluten Newcomern, die in Hürth vor den Toren Kölns zum ersten Mal auf einer Bühne standen, eben auch gut etablierte Acts auftraten, die schon bei Wacken rocken durften. Die Größe der Fanbase spielte erstmal keine Rolle. 

Die ersten zwölf Acts traten am Freitagabend auf, am Samstagabend folgen noch einmal zwölf. Wie Barbara Schöneberger mehrfach betonte: Erst im Halbfinale am Abend vor der Bundestagswahl, also am 22. Februar, werden dann aber die Songs gesungen, mit denen die Acts auch nach Basel fahren würden. In den ersten beiden Shows an diesem Wochenende ist es den Acts überlassen, ob sie sich mit eigener Musik oder einer Coverversion vorstellen wollen. 

Eine kleine Schwäche dieses Konzepts: Während man bei den meisten Acts entweder Stimme beim Cover oder die eigene Musik bewerten konnte, ließ ein Dance-Act wie Enny-Mae x Paradigm, die mit einem Cover-Song auftraten, ratlos zurück: Was sollte man dort nun bewerten? Dass manche Töne nicht getroffen wurden, machte das Urteil allerdings (leider) einfach. Über das Weiterkommen entschied die Jury, so auch noch im Halbfinale, bevor dann erst beim deutschen Finale am 1. März im Ersten das Publikum zuhause entscheidet. 

Erst mehr Exposition, dann ein späteres Publikums-Voting

Dann macht es auch Sinn. Nach mehreren Auftritten und einer entsprechenden Exposition ist es ein fairerer Kampf um die Gunst des Publikumsvoting als bei den letzten deutschen Vorentscheiden - die zweite Erkenntnis bei der „Chefsache“ für die es weniger Innovationsfreude als  Logik braucht. Was brachte der Abend sonst noch? Für die Techniker im Studio wie die Regisseurin einen ungeahnten Nervenkitzel als zwischendrin die große LED-Wand ausfiel. Elton entpuppte sich mit cremigen Vergleichen als Latte Macchiato Poet und Stefan Raab war ständig „verträumt“.

Chefsache ESC 2025 © RTL

Nur nicht bei Feuerschwanz, einer Metalband, die mit einer schrägen Coverversion von „Dragostea din tei“ für die größte Stimmung sorgte - und auch Stefan Raab wachrüttelten: „Ihr habt aus Scheiße Gold gemacht. Wir sind Brüder im Geiste“ „Aber nicht beim Körper“, frotzelte Schöneberger angesichts der Sixpack-Outfits der Band. Neben der kamen in der ersten Sendung übrigens auch Jonathan Henrich, Julika, Benjamin Braatz, Abor & Tynna, die Band Cosby und - mit Standing Ovations nach ihrem Auftritt - die Sängerin Cage weiter.

Eine Entscheidung, die wie geplant um 23.05 Uhr fiel. Was für eine Punktlandung einer routinierten Produktion mit gradliniger Dramaturgie. Nichts daran war neu, aber (fast) alles fehlerfrei umgesetzt. Stefan Raab war dabei voll in seinem Element, hat sich bei Jury-Urteilen nur manchmal ein bisschen vergaloppiert. Doch das schmälert den Unterhaltungswert eines abwechslungsreichen Abend aus Hürth nicht.