Puzzle symbolisieren auf Leinwand und Bildschirm gelegentlich dramaturgische Komplexität. Um Ryan Goslings Staatsanwalt zum Beispiel in „Das perfekte Verbrechen“ von der Vergeblichkeit seiner Ermittlung zu überzeugen, sah man Anthony Hopkins‘ Mörder 2007 mehrfach beim Teilelegen. Auch einem „Tatort“ aus Münster, Al Pacinos Thriller „Insomnia“ oder dem Denksportler „Columbo“ diente das Geduldsspiel als Beleg verzweigter Gedankengänge, die nur Genies enträtseln. Da sagt es viel aus über Kommissarin Kramer, dass sie am Abend ihres ersten Arbeitstages im ARD-Vierteiler „Spuren“ ein Puzzlestück auf dem Küchentisch einfügt und wieder entfernt. Es passt halt nicht.
Wie so oft in Stefan Krohmers Verfilmung von Walther Roths Tatsachenbericht „Soko Erle“. Stefanie B. kehrt darin nicht von ihrer täglichen Laufrunde durch den Wald am Rande des fiktiven Weilers Buchingen zurück. Und weil „du hier ned einfach so verschwindesch“, wie der ortsansässige Kommissar Riedle (Tilman Strauß) seiner zugereisten Kollegin Kramer (Nina Kunzendorf) erklärt, sind seine 926 Nachbarn nur Stunden später schon in heller Aufregung. Als die Leiche der jungen Frau ein paar Tage drauf dann noch mit Anzeichen sexueller Gewalt buchstäblich aus dem Fluss auftaucht, ist es auch das Ländle ringsum.
Um der aufgeheizten Bevölkerung Erfolge zu liefern, wächst Barbara Kramers Ermittlungsgruppe zügig zur Sonderkommission, kurz SoKo, in der 40 Beamte fieberhaft Hinweise sammeln. An dieser Stelle würden sie ihr Polizeihandwerk jedoch üblicherweise hinters Vordergrundrauschen gesellschaftlicher Begleitumstände rücken. Am „Tatort“ erhielten die soziokulturellen Kontexte der Verdächtigen und Ermittelnden stärkere Bedeutung, im „Spreewaldkrimi“ wären es durchnässte Landschaften, bei „Hubert ohne Staller“ ulkige Landeier.
Kaum jemand würde wie einst „Derrick“ hingegen noch ständig fragen, wer am Montag um elf bitte wo gewesen sei. Zu trivial, zu altbacken, zu trenchcoatig-bieder. Insofern ist „Spuren“ von gestern. Allerdings bewusst. Beschränkten sich schwarzweiße bis resopalbeige Krimis früherer Jahrzehnte stoisch aufs polizeiliche Tagesgeschäft, beginnen die komplexen Backstorys von heute ihr Publikum schon wieder zu langweilen. Auch deshalb ist Krohmers Drehbuchduo womöglich aufs Sachbuch des realen Polizeisprechers Roth, der die Öffentlichkeit 2016 über den Ermittlungsstand informiert hatte, aufmerksam geworden.
Im Gespräch jedenfalls zeigen sich Robert Hummel und Martina Mouchot „fasziniert, wie hartnäckig“ Badens Polizei seinerzeit mit „hohem Personal- und Zeitaufwand“ vorgegangen sei, „um die Taten aufzuklären“. Plural. Im ersten Cliffhanger deutet Stefan Krohmer unweit des ersten Mordes schließlich den nächsten an. Und was beide mit einem Cold-Case jenseits der österreichischen Grenze zu tun haben, das erzählt er uns in einer Detailliebe, die bisweilen an Versessenheit grenzt. Anders als viele Forensik-Pornos von „C.S.I.“ bis „Bones“ verkneift er sich dabei zum Glück mikroskopische Zeitlupen im Disco-Licht.
Mehr noch: Wenn Ahmed El Nagars kriechende Kamera minutenlang Uniformierte beobachtet, Täterhaar in der Fundorthecke zu suchen, bevor Gerichtsmedizinerinnen Buchstabe für Buchstabe „DNA Fragment, Kennziffer: SB 10.4, Ort: Intimbereich, Template mit Inhibitoren kontaminiert“ lesbar auf Computerbildschirme tippen, grenzt „Spuren“ ans Dokumentarische. Dass Szenenbildner Oliver Hoese Verhörzellen zu Verhörzellen dekoriert und nicht wie die Kollegen der artverwandten Netflix-Serie „Criminal“ als Designobjekte im Art-Deco-Stil, passt da zur formalistischen Stringenz im Umfeld planquadratischer Weinberge.
Auch deshalb bleiben unterm angenehm zurückhaltenden Soundtrack von Stefan Will selbst die Biografien der Hauptfiguren beiläufig wie ihre Kleidung. Barbara Kramers familienbedingte Rückkehr ist deshalb auch keine Back-, sondern eine Frontstory, um ihr Exil im Elternhaus plausibel zu machen, ohne es zu überhöhen. Offenbar wollte der Regisseur filigraner Milieustudien meist mit (hier mal ohne) seinen Lieblingsautor Daniel kein weiteres Familiendrama vor Krimitapete drehen, sondern die „wirklichkeitsnahe Darstellung von Polizeiarbeit“. Und das umfasst abseits der technischen Authentizität eben auch menschliche.
Mit jedem Tag ihrer monatelangen Wühlarbeit zeigt Krohmers SoKo „neben Phasen der Anspannung und Euphorie“ folglich auch solche „der Ratlosigkeit und Erschöpfung“ zwischen Teambuilding und Kompetenzgerangel. Gegensätze, die tief in jede Randfigur hinein glaubhaft zur Geltung kommen. Wie der hemdsärmelige Provinz-Cop Bernd (Boži Kocevski) einerseits spürbar mit dem Führungsstil einer Vorgesetzten aus Berlin hadert, an der Seite des IT-Experten Navid (Atrin Haghdouost) aber ungemein aufopferungsvoll Freizeit und Nerven opfert – das ist Real Crime Fiction in ihrer anschaulichsten Form.
Dank kleiner, sensationell kluger Randaspekte wie das ständige Essen aller Beteiligten am Schreibtisch, hebt sie sich trotz des populismusanfälligen Serienkiller-Themas und einiger Mercedes-Sterne in Großaufnahme zu viel deutlich ab von der Masse kriminalistischer Wirklichkeitssimulationen. „Sie erzählen einfach, wir bewerten“, sagt Kommissar Riedle auf einer der ersten „Spuren“ im stichhaltig möblierten Vernehmungsraum. Damit könnte er die Serie selbst meinen. Die ARD erzählt sie schließlich mehr als gut. Und so wird es hoffentlich auch ihr Publikum sehen.
"Spuren" steht ab 7. Februar in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Das Erste zeigt alle vier Folgen am Samstag, 15. Februar ab 20:15 Uhr