Es ist mitunter drollig, Zukunftsvisionen früherer Tage im Morgen von gestern, also heute zu sehen. Anno 1900 zum Beispiel hielt man es auf Postkarten für denkbar irre, aber eben denkbar, dass 100 Jahr später beflügelte Polizisten Verbrecher durch die Luft rohrpostdurchzogener Städte jagen und überall Grammofone dröhnen. Verrücktes Futur 2! Dabei ist die Menschheit im Präsens schon seit Jahrzehnten vier, fünf technische Revolutionen weiter als für unsere Ahnen der Pferdekutschenepoche vorstellbar.

Bereits Mitte der Siebziger gab es zum Beispiel Smart Homes, in denen Haushaltsgeräte vernetzt waren. Gut, verglichen mit Connected Living digitaler Wohnungen 2025, deren Sensorsysteme die Kühlschrankfüllung an Blutzuckerspiegel und Außerntemperatur koppeln, waren das eher Feldversuche mit Fön. Doch was David und Samira, die mit zwei Kindern aus Hamburg nach Wühlheim ziehen, am Rande der Stadt vorfinden, war seiner Zeit schon 1971 Lichtjahre voraus.

Am Abend nach dem Einzug nämlich erwacht „Cassandra“ im frischbezogenen Domizil zum Leben. Ein Haushaltsroboter, der auch die zugehörige Netflix-Serie betitelt und sechs Folgen lang ähnlich folgenlos ruft wie seine, besser: ihre Namensvetterin im antiken Troja, als griechische Belagerer vor dessen Tor das legendäre Danaergeschenk in Gestalt eines verlockenden Holzpferds parkten. Doch dazu später mehr. Gut 3000 Jahre später sind die vier Zugezogenen ziemlich angetan, wie fortschrittlich ihre Vormieter 54 Jahre zuvor waren.

Cassandra © Netflix/Sasha Ostrov Spieleabend mit Cassandra

Cassandra ist ja nicht nur hilfsbereit, sondern sympathisch. Gekoppelt an eine Vielzahl Bildschirme liest sie den Nachmietern jeden Wunsch von den Lippen ab. Während die Künstlerin Samira (Mina Tander) skeptisch ist, freunden sich Juno (Mary Tölle) und Fynn (Joshua Kantara) mit ihr an, was Papa David (Michael Klammer) schon darum begrüßt, weil er so ungestörter Krimi-Besteller schreiben kann. Es dauert allerdings keine halbe Stunde, bis erste Zweifel an Cassandras Integrität aufkommen.

Beim Rasenmähen feuert die kybernetische Haushaltskraft versehentlich einen Stein durchs Fenster und verletzt Samira. Keine zehn Minuten danach bringt sie Juno gegen Mama auf, sät also Zwietracht im trauten Heim. Und als am Ende der ersten Folge ein Projektor mit merkwürdigen Dias in Flammen aufgeht, wird zwar nicht den Bewohnern, aber uns Zuschauern klar: irgendwas stimmt nicht mit Cassandra; da mag ihr Lavinia Wilson ein noch so argloses Gesicht leihen, das nicht ganz lippensynchron spricht und ständig kurios grinst.

Wie Kassandra 1180 v.Chr. sendet also auch Cassandra 2025 n.Chr. von Rückblenden in die Historie des Wühlheimer Smart Homes begleitete Warnsignale. Aber (letzte Referenz der griechischen Mythologie, versprochen!) weil Sirenen nun mal betörender klingen als Samiras nervige Zweifel, werden sie geflissentlich überhört. Was Benjamin Gutsche hier nach eigenem Drehbuch inszeniert, könnte somit ein fiktiver Fall von Fortschrittseuphorie sein, die aktuell auch den Hype um Künstliche Intelligenz, kurz KI, befeuert.

Empfohlener externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Ein epochales Thema, das wegen seiner Bedeutung für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation präzises Feintuning erfordert. Kleinere Stellschrauben, die Gutsche anfangs am Beispiel einer stadtflüchtigen Familie zwischen Enge und Zwängen der Moderne ins filigrane Uhrwerk seiner Milieustudie dreht. Nach der famosen Auftaktepisode jedoch gehen dem Showrunner, durch Serien wie „Lerchenberg“ oder „All you need“ eigentlich bestens in amüsanter Gesellschaftskritik geschult, Minute für Minute mehr die Pferde durch.

Genre "Near Future" im Trend

Patriarchat und Befreiung, Homosexualität und Homophobie, Ehekrisen und häusliche Gewalt, Zwangsneurosen und Mobbing, dazu Untreue, Verrat, Suizid, sogar Mord – all das ist weder einfallslos oder langweilig noch schlecht gescriptet, bebildert, verkörpert; es lenkt aber von Cassandras Wesenskern ab: Welche Zivilisationssprünge wären wünschenswert und wenn ja, wie viele? Antworten dazu liefert ein Film- und Fernsehgenre namens Near Future, das die Menschheit seit Erfindung erster Kinematografen brennend interessiert und vor gut 50 Jahren buchstäblich geerdet wurde. Damals hatten Filmemacher wie Tom Toelle („Millionenspiel“), Wolfgang Petersen („Smog“) und Rainer Erler („Fleisch“) gesellschaftliche Optionen zu Dystopien im Setting von damals weitergedacht.

Zeitgleich eröffnete Michael Crichton den Vergnügungspark „Westworld“, dessen Roboter anders als Stanley Kubricks Bordcomputer Hal „2001“ Menschengestalt annahmen. War Science-Fiction bis dato meist in ferne Epochen und Galaxien vorgestoßen, legte Near Future die Zukunft nun näher an die Gegenwart auf Erden und begann darin zu erkunden, was plausibel genug für utopischen Realismus ist. Dass „Cassandras“ Zukunft sichtbar von gestern ist, ändert daran ebenso wenig wie die Tatsache, dass Gutsches KI fürs analoge Jahr 1971 ganz schön digital daherkommt. Warum, klärt sich im Lauf der Serie zwar noch auf.

Aber 207 Jahre nach Mary Shellys Frankenstein ist dem Genre ohnehin wichtiger, ob der Fortschritt darin rückschrittlich ist, also das Gegenteil von Entwicklung bewirkt. Ethische Grundsatzfragen, auf die zuletzt Love-Robots-Satiren wie „Ich bin dein Mensch“ und „Tender Hearts“ oder Iris Berbens Lebenszeitdealerin der Netflix-Serie „Paradise“ Antworten gesucht haben. Dass „Cassandra“ hier oft der Ehrgeiz fehlt, ist zwar schade. Es ändert aber nichts an ihrer Güte als retrofuturistisches Familiendrama, das Szenenbildner Frank Bollinger zu etwas Bemerkenswertem ausstattet: Einer gegenwärtigen Vergangenheitszukunft, die trotz deutscher Didaktik und Jump Scares nicht nur unterhaltsam, sondern einleuchtend ist.

"Cassandra" steht ab dem 6. Februar bei Netflix zum Abruf bereit.