Große Geschichten, lautet ein ungeschriebenes Fernsehgesetz, brauchen große Erzählungen, noch größere Emotionen und größtmögliche Dramatik – sonst sind es nur kleine Geschichten, oder noch schlimmer: keine Geschichten. Großgrößergrößtmögliche Geschichten kochen ihre Emotionen deshalb gern auf dramatischer Flamme hoch, bis die Erzählung unterm Geigenteppich brodelt wie das Feuer der Leidenschaft im, sagen wir: ZDF-Melodram. Zuwiderhandlungen werden mit Einschaltquoten nicht über drei Prozent bestraft oder Zugriffe im vierstelligen Bereich.

Da ist es mehr als ein kleiner Satz am Ende einer großen Geschichte über ihren noch viel größeren Schauplatz, wenn deren Hauptfigur sagt, „Berlin ist keine Stadt der Liebe, und so wird das hier auch keine Liebesgeschichte“. Denn was Pia Strietmann und Julia Langhof aus Drehbüchern des Gegenwartsarchäologen Alexander Osang machen, schafft den Spagat, eine Lovestory ohne Love zu erzählen. Aber auch einen Krimi ohne Crime, ein Metropolenporträt ohne Lokalpatriotismus, also Masse mit Klasse. Und genauso erreichen sie das nächsthöhere Niveau fiktionaler Dichtung oder wie der Sechsteiler ab heute in der ARD-Mediathek heißt: „The Next Level“.

Den sucht die experimentierfreudige New Yorker Globetrotterin Zofia (Jenny Walser), als sie am Ende ihrer Hochzeitsreise mit Josh (Ben Lloyd-Hughes) vorm „Reaktor“ auf Einlass wartet, wie das reale Berghain hier heißt. Einige Stunden, Drinks und Pillen später, wird der Technotempel jedoch vom nächsten zum letzten Level für Zofia. Nachdem sie erst auf der Tanzfläche kollabiert, dann im Backstage-Bereich stirbt, tigert ihr Mann 260 Minuten ziellos, aber nicht allein durch die Fremde. Im Krankenhaus begegnet er der Journalistin Rosa (Lisa Vicari), die ihn in der vagen Hoffnung auf eine Story durch Berlin begleitet.

Das ist allerdings nicht der einzige Erzählstrang einer ebenso simplen wie komplexen Milieustudie. Parallel recherchiert die Reporterin im Big Biz des Immobilieninvestors Brenner (Jens Harzer), dessen Tochter Paula (Paula Kober) als Clubmanagerin Zofias Tod erleben musste, während Rosas Freund, der Wirtschaftsbehördensprecher Mark (Jerry Hoffmann), mit Paulas Vater ein umstrittenes Innovationscenter plant und der gewissenhafte Cop Irfan (Kailas Mahadevan) parallel nach Erklärungen für Zofias dubioses Ende sucht.

The Next Level © ARD Degeto Film/Letterbox Filmproduktion GmbH/Simon Dat Vu Wie ein Bodyguard: Paula (Paula Kober, li.) kann ihren Vater Bodo Brenner (Jens Harzer, re.) nicht ausstehen.

Es geht also um Liebe und Tod, Politik und Drogen, Journalismus und Geld, Kapitalismus und Verdrängung, alles oder nichts. Wollte jemand ein Organigramm dieses dramaturgischen Netzwerkes malen, der Plan des Berliner ÖPNV wäre dagegen wohlgeordnet. Richtung Finale franst „The Next Level“ zudem in eine Art amerikanisch-polnisches „Romeo und Julia“ bis nach New York aus, wo Letterbox gemeinsam mit Real Film im ARD-Auftrag Folge 6 drehen durfte. Und damit zurück zum Spagat, den der filigrane Soundtrack von Martina Eisenreich und Michael Kadelbach eher kommentiert als untermalt.

Obwohl die Serie bis zum Anschlag mit potenziellem Thriller-Stoff gefüllt ist, kommt sie ohne Knalleffekte, Spannungsbögen, Erkenntnisgewinne, Moralpredigten, Schönheitsideale aus. Wie Quecksilber lassen die Filmemacherinnen ihre Story unaufgeregt durch ein Berlin abseits postkartentauglicher Fixpunkte kriechen. Statt ständig plakativ überm Brandenburger Tor zu kreisen, erkundet die Kamera von Jakub Bejnarowicz, bei der vorigen Berlinale für Matthias Glasners „Sterben“ gefeiert, lieber minutenlang Ostberliner Rauputzfassaden entlang der Karl-Marx-Allee, wo Lisa Vicaris Augenringe längst nicht das Dunkelste einer kaputtspekulierten Hochglanzruine sind.

Beiden – der gutgelaunten Stadt und ihrer übellaunigen Bevölkerung – dabei zuzusehen, wie sie an ihrer Überfrachtung mit Relevanz, Zeichen, Klischees verzweifeln, ist mitunter zäh. Das ein oder andere Close-up auf verkarstete Seelen hätte uns die Regie also besser ebenso erspart wie die permanente Betonung des radical chic einer Stilikone, die zusehends bieder wirkt. Und nein, so wenig Berliner Bullen stets kaputte Tatort-Typen wie Karow und Rubin sind, so wenig sind ihre Journalisten nur grüblerische Kettenraucher wie Rosa oder Lokalchef Kowalski (Thorsten Merten), die Aspirin mit Bier runterspülen und nie lächeln, es sei denn ironisch. Zugleich aber wurden soziale Waben von Kommissariat über Technoclub bis Zeitungsredaktion lange nicht mehr so authentisch dargestellt.

In der meistgefilmten, meisterzählten, meistzitierten Stadt unserer Epoche, einem 3,7-Millionen-Klischee auf 900 Quadratkilometern, von dem alle ihre Meinung haben, aber niemand wirklich Bescheid weiß, grenzt das an ein Wunder. Denn ihre Deutung ist seit Walther Ruttmanns Experimentalfilm „Sinfonie der Großstadt“ vor 98 Jahren mindestens 999 Regisseuren misslungen, bevor Florian Opitz mit „Capital B“ kürzlich zumindest dokumentarisch einen Teilerfolg verbuchte. Fiktional beißt sich dagegen auch der eingeborene Osang an seiner Heimat die Zähne aus. Nur: er will halt auch gar nicht zubeißen.

Sein Ziel war die Annäherung ans Unerklärliche, mehr so ein Knabbern. Und dafür ist der verirrte Witwer Josh, dessen Geschichte die Reporterin Rosa zu einem Porträt ohne Anfang und Ende, These und Pointe, Struktur und Botschaft verdichtet, das perfekte Stilmittel. „Wenn wir Glück haben“, sagt Rosas Vorgesetzter mal zu ihrem Lover Mark, „gibt ihr Text allem einen Sinn“. Das tut er nicht. Was allerdings alles andere als Pech ist. Wer es krampfhaft versucht, wird ohnehin daran scheitern. Und erst das Scheitern dieser Serie macht sie so ungeheuer sehenswert.

"The Next Level", ab diesem Freitag in der ARD-Mediathek und am Freitag, den 31. Januar ab 22:20 Uhr im Ersten