Menschliche Monster sind seit der ersten Verfilmung von Mary Shellys Frankenstein vor 114 Jahren dauerpräsente Figuren auf Leinwand und Bildschirm. Zu charakterisieren, was sie verbindet oder trennt, würde daher den Rahmen jeder Doktorarbeit sprengen, aber eins kann man sagen: Die absolute Minderheit – daran ändern Ausnahmen wie Alexis Carrington-Colby, Dolores Umbridge und Cersei Lennister wenig – sind weiblichen Geschlechts. Was wiederum einen Verdacht nahelegt: Das größte aller menschlichen Monster ist gar kein zusammengenähtes, mutiertes oder untotes Kunstwesen mit Klauen, Zähnen, Bissreflex.

Es ist der Mann an sich, die gefährlichste Lebensform, seit Moleküle Zellverbände bilden. Während Film- und Fernsehfrauen trotz steigender Boshaftigkeitsrate die Guten sind und bleiben, taugt jeder Mann per se zum Monster, also buchstäblich jedermann. Auch und gerade der von nebenan. Nehmen wir mal Gerry Star. Runde 50 Jahre vorm Auftritt in der gleichnamigen Prime-Serie auf den Allerweltsnamen Gerhard getauft, fristet er ein Leben als Mädchen für alles in Becky’s Bowlingcenter, wo der verhinderte Musikproduzent zwar keine Aufgaben, aber einen Traum hat.

Mit seiner Band musizierender Kollegen will er den Deggendorfer Song Contest DSC gewinnen und dadurch an bessere Zeiten knüpfen. Die bestehen zwar nur im Bewerbungsvideo für einen ESC-Vorentscheid vordigitaler Tage; am Ego des Alphamännchens aber kann das nicht rütteln. Und damit herzlich willkommen im Gruselkabinett monströser Männlichkeit, das uns ab heute für achtmal 20 Minuten seine Pforten öffnet. Denn obwohl der selbsterklärte Star nie übers hessische Provinznest hinausgekommen ist, hält er sich wie so viele seiner Geschlechtsgenossen für den Bierbauchnabel der Welt und lässt es all im unmittelbaren Dunstkreis spüren.

Besonders sein Bowlingbahn-Duo um die füllige Sängerin Stella (Franziska Winkler) und den verklemmten Drummer Micha (Lars Rudolph), das der Koch Big B (Noah Tinwa) an der Gitarre zum Trio macht. Fortan sind also drei weitgehend wehrlose Menschen Gerrys Profilneurosen ausgesetzt. Weil sie in der Band- und Firmenhierarchie nominell unter ihm rangieren, tritt er fleißig abwärts, während er zur resoluten Chefin Becky (Andrea Sawatzki) und ihrer hübschen Hilfskraft Helli (Caro Cult) aufwärts buckelt. Dieses Prinzip ist serientauglich, seit sich Ricky Gervais seinen Bürohengst David Brent vor 24 Jahren auf „The Office“ losgelassen hat.

Gerry Star © Prime Video Szene aus der Amazon-Serie "Gerry Star".

Und bei der Suche nach Drehorten wühlt sich inzwischen besonders deutsche Comedy durch die Niederungen des (spieß)bürgerlichen Mainstreams. Florian Lukas‘ verrauchte Dart-Keller als „Die Wespe“, Marc Hosemanns heruntergewirtschaftete Supermarkt-Filiale in „Die Discounter“, Sky DuMonts untergeschossige EDV-Abteilung „I-Team“, Heinz Strunks Kirmeskapellenstudie „Fleisch ist mein Gemüse“, dessen Ballermann-Version zuletzt den „Last Exit Schinkenstraße“ nahm. Nun also der Bowlingbahn-Stromberg Gerhard aka Gerry: dauernd dürfen Archetypen mit megalomaner Selbstüberschätzung im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu Charisma und Charme, Kompetenzen und Talent tyrannisieren.

Um dieser psychosozialen Versuchsanordnung Wahrhaftigkeit zu verleihen, nutzen die kreativ Verantwortlichen gern den Trick einer fiktiven Kamera-Begleitung, als wäre das Filmprojekt ein Filmprojekt im Filmprojekt. Bei „Gerry Star“ wäre das allerdings gar nicht nötig. Am schlimmsten an der Mockumentary sind schließlich gar nicht die permanenten Momente schmerzhafter Fremdscham, sondern dass solche Typen tatsächlich existieren. Die reale Welt ist voll toxischer Kerle, die sich für unübertrefflich, unbesiegbar, unwiderstehlich halten.

Im Zirkel einflussreicher Alphatiere von „Yellowstone“ bis „Succession“ gleicht diese Reflexion sogar dem echten Spiegelbild der handelnden Männer (und jeweils einer Frau). Ob man den gernegroßen Gerry da fürchterlicher findet, hängt womöglich mehr von der Schicht des Zuschauers als seinem (seltener: ihrem) Geschmack ab. Das Niveau importierter Luxusserien aber erreicht die deutsche Sitcom schon deshalb nicht, weil der Privatjet für John Dutton und Logan Roy pro Stunde dasselbe kosten dürfte wie zwei Folgen Sitcom made in germany.  

Aber auch unabhängig vom Budget gibt es natürlich viel zu bemängeln an der Sperrholzkulissen-Komödie von Amazon Prime. Die ist nämlich nicht nur am Rande des Zumutbaren unterschichten-, alters-, frauen- und behindertenfeindlich; ganze Passagen sind bis hin zu Gerrys Standardantwort „läuft“ so offensichtlich von „Stromberg“ gekl…, pardon: inspiriert, als wäre sie von ProSieben, nicht Pyjama Pictures. Eventuell wollten die Schauspieler Max Wolter und Tom Gronau in ihrer ersten Regie- und Drehbucharbeit aber auch gar keine Komödie, ja noch nicht mal ein Unterhaltungsformat, sondern ein sadomasochistisches Sozialexperiment machen.

Das würde erklären, warum ihnen selbst Witze über Suizidversuche, Kleinwuchs, Waterboarding oder Katalogfrauen nicht zu lausig sind. Als Ben Beckers DSC-Juror Ronny mit Sascha Nathans DSC-Teilnehmer Gerry um die Dschungelkrone der misogynsten Zote wetteifert, hört der Spaß aber auf und wird zum (unfreiwilligen?) Lehrstück, warum unsere Spezies dem Untergang geweiht sein dürfte. Oder in den Worten von Caro Cults angenehm bedächtigen Helli: „Der Typ ist wirklich der Kotzreiz in meiner Kehle, ich kann nicht in Worte fassen, wie widerlich ich den finde.“ Das können wir ebenso wenig, empfehlen aber, dieses Gruselformat besser nicht auf nüchternen Magen zu sehen.

"Gerry Star - Der schlechteste beste Produzent aller Zeiten", ab sofort bei Prime Video