In jeder Sage – sei es die aus 1001 Nacht, Grimms Märchen oder nahezu jeder Schriftreligion – stecken winzige Körnchen Wahrheit, zumindest aber historische Parallelen. Hänsel und Gretel zum Beispiel haben angeblich einer leibhaftigen Hexe den Garaus gemacht. Mindestens 53 alttestamentarische Figuren sind archäologisch verbürgt. Und Schneewittchens sieben Zwerge weisen auf einen Giftmord im Kontext mittelalterlicher Nachwuchsarbeit hin. Gegen den Rattenfänger von Hameln allerdings ist das meiste davon bloß buchstäblich fabelhaft.
Dass ein fahrender Flötist anno 1284 erst die städtischen Nager und als Vergeltung für mangelnde Zahlungsmoral deren Kinder ins Verderben pfiff, klingt zwar schwer nach Schauermär. Doch Historikern zufolge ist sie in der Wirklichkeit einer pestgeplagten Epoche obrigkeitsstaatlicher Willkür verwurzelt und hat auch deshalb weltweit Karriere gemacht. Selbst Japaner kennen schließlich die bekannteste aller Sagen aus Deutschland.
Vielleicht fiel dem deutsch-japanischen Regisseur Rainer Matsutani deshalb vor gut vier Jahren auf, dass sie „nie adäquat verfilmt“ wurde. Damals steckte der Horrorfan wie alle im Lockdown fest, stieß bei der Ideensuche auf den Schulstoff seiner zwei Kulturen, „wollte allerdings keine historische Serie machen“ und fragte sich stattdessen: „Was, wenn nicht nur der Rattenfänger, sondern auch die toten Kinderseelen zurückkommen?“ Die Antwort gibt er ab heute bei Neo und nutzt dabei den Twist, dass der Sage nach nur drei junge Hamelner überlebt haben, die dem Rattenfänger dank ihrer Behinderungen nicht folgen konnten.
740 Jahre nach dem sagenhaften Original verschwinden im sechsteiligen ZDF-Sequel zwar keine Kinder aus der niedersächsischen Stadt. Dafür töten mehrere von ihnen wahnhaft Erwachsene, während die blinde Finja, der taube Jannik und Rollstuhlfahrer Ruben Nacht für Nacht denselben Albtraum von der Rückkehr des Rattenfängers haben. Als sie der Sache mit Janniks Bruder Sam auf den Grund gehen, stößt das Quartett auf dunkle Geheimnisse ihrer Eltern, die Täter und Opfer aus dem Mittelalter ins Jahr 2024 rufen, um – tja, was eigentlich genau: Rache üben, Macht erlangen, Leute erschrecken, Quote machen?
Weil sich Rainer Matsutanis Drehbuch über Sinn und Zweck der Ereignisse eigentlich nie ganz im Klaren ist, feuert es von der ersten bis zur 270. Minute ein Feuerwerk selbstreferenzieller Gruseleffekte ab, klebt das Allzwecklabel „Mystery“ drauf und macht darunter dasselbe wie nahezu jedes deutsche Referenzobjekt seit Max Schrecks „Nosferatu“ vor 102 Jahren. Wenn jemand darin mutterseelenallein durch dunkle Gassen, Labore, Keller geht, flackert geräuschvoll das Licht. Falls darin geräuschvoll Geister erscheinen, muss man sich nur kurz abwenden, dann sind sie – Padauz – weg. Und zu Tode kommen natürlich nur belanglose Nebenfiguren.
Doch keine Angst, der Schreck darüber scheint schon deshalb flugs zu verfliegen, weil sich die Überlebenden tags wie nachts drauf bedenkenlos in exakt dieselbe Einsamkeit begeben und wieder erschreckt werden. Und wieder. Und wieder. Nur warum genau? Das ist Rainer Matsutanis unfreiwillig komischer Springteufel-Groteske ebenso gleichgültig wie Dialogregie oder Figurenzeichnung abseits seiner sorgsam zerfledderten Gothic-Zombies im Springteufel-Modus.
Wann genau sie aus dem Jenseits ins Diesseits treten, folgt demnach keiner handlungsimmanenten Regel außer derjenigen, dass es auf vorhersehbare Art unvermittelt passieren und nicht nur von Funkenflug oder Bodennebel, sondern auch Jessica de Rooijs und Hendrik Nölles filmmusikalischer geigenpeitschender Hiobsbotschaft begleitet sein muss. Vor lauter Mitleid, Fremdscham, Überdruss kommt man kaum dazu, zwischen den 666 Jump Scares dieser Effekthascherei irgendetwas zu entdecken, das dem Bestand identischer Horrorfiktionen seit Mike Myers etwas Nennenswertes hinzufügt.
Dabei gibt sich das Personal durchaus Mühe, Matsutanis Firlefanz darstellerische Substanz zu verleihen. Die (sehende) Schauspielerin Caroline Hartig etwa verkörpert ihre (blinde) Finja beinahe so glaubhaft wie der (gehörlose) Kameraneuling Constantin Keller den (tauben) Jannik. Unter den Erwachsenden agiert Christian Erdmann als Rubens Vater immerhin solide. Alle anderen sind Gefangene von Matsutanis überinszenierem Hokuspokus, der allen Ernstes weniger Suspense hat als die jüngsten Mystery-Unfälle Made in Germany „Was wir fürchten“ (ZDF) oder „Schnee“ (ARD).
Umso erstaunlicher, dass Veronica Ferres liebestolle Architektin, die auch ohne Zuhörer ständig ihre Gedanken („mich einfach kaltstellen, unfassbar“) verbalisiert, nochmals negativ aus dem Cast hervorsticht. Einerseits. Denn andererseits lässt sich dieser Sorte stereotyper Knallchargen beim besten Willen nichts Seriöses entlocken. Jonathan Elias Weiskes zuckersüßer Bedenkenträger Sam, Riccardo Campiones zuckersüßerer Zappelphilipp Ruben oder die (kein Witz) schwarze Bundeswehrpilotin Romy (Pia Amofa-Antwi) sind schließlich so miserabel geskripted, dass kein Talent der Welt daraus mehr als Abziehfolien tausendfach abgenibbelter Gruselklischees machen könnte.
Und da ist noch nicht mal von Florence Kasumba die Rede. Was Real Film und Don’t Panic geritten hat, ihrer ugandischen Ärztin Jamila Voodoo-Künste anzudichten, weil – klaro: Afrika, bleibt ein Rätsel, das vielleicht nichts mit Rassismus zu tun. Dennoch dürfte die AfD angesichts so toxischer Vorurteile noch depperter grunzen als Götz Ottos Rattenfänger. Gäbe es hierzulande Antipreise wie die „Goldene Himbeere“ für missratene Horrorfiktionen: Diese hier wäre in jeder Kategorie favorisiert.
Alle sechs Folgen von "Hameln" stehen ab dem 30. Dezember um 10 Uhr in der ZDF-Mediathek und laufen am gleichen Abend ab 21:45 Uhr bei ZDFneo.