Ob weibliche Reaktionen auf männliche Gewalt anmessen sind, entscheiden am Ende – natürlich im Rahmen geltender Gesetze – die Betroffenen selbst. Dass eine steigende Zahl südkoreanischer Frauen angewidert vom Patriarchat aktuell auf Kinder, Ehe, Sex, gar Dating verzichtet, mag den Herren der Schöpfung daher buchstäblich auf den Sack gehen; juristisch ist es absolut unbedenklich. Mit Amelies Antwort auf übergriffige Typen in Deutschland verhält es sich hingegen ein wenig anders.
Nachdem das Zimmermädchen eines Berliner Luxushotels am Arbeitsplatz vergewaltigt wurde, dreht es den Spieß nämlich um und startet mit Strickhaube, Smartphone, brodelnder Wut bewaffnet einen Rachefeldzug bis hin zur kompletten Kastration. Hilfreich ist dabei eine Superkraft, über die sie seit ihrem Missbrauch verfügt. Durch einfachen Körperkontakt kann Amelie erkennen, ob der Berührte schon mal sexuell übergriffig war. Und weil das auf die Mehrzahl der Männer zutrifft, hat „Hysteria“, wie sie sich fortan bei TikTok oder Twitch nennt, fünf Folgen eines beispiellosen Fernsehformats gut zu tun.
Es heißt "Angemessen angry". Wobei die Tatsache, dass Schöpferin Elsa van Damke kein Fragezeichen hinter den Titel ihrer ersten Serie stellt, bereits parteiisch klingt. Schließlich hat sie die mal mit der Erklärung präsentiert, wie Amelie "Überlebende von sexueller Gewalt" zu sein. Als persönlich betroffene Regisseurin hat die 30-Jährige ein halbes Leben später also allen Grund, nach eigener Vorlage sauer zu sein. Stinksauer sogar.
Welche Reaktion ihres berechtigten Zorns allerdings angemessen ist – dieser schwierigen Frage geht die frisch gebackene Absolventin der Hamburg Media School gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Jana Forkel ab sofort bei RTL+ fünfmal 25 verblüffend leichtfüßige Minuten einer Serie nach, die es so noch nie gab. Denn beide haben sich dazu entschieden, persönliche Erfahrungen mit dem Normalzustand geschlechtsspezifischer Gewalt über alle Generationen, Identitäten, Schichten hinweg in einer Superheldinnengroteske aufzuarbeiten. Und das war nicht nur mutig. Es ist schlichtweg brillant.
Wegen des Drehbuchs, wegen der Inszenierung, wegen ihrer Bild-, Ton-, Textsprache und ganz besonders dank des (von Liza Stutzky perfekt gecasteten) Personals, besonders: Marie Bloching, Antiheldinnen-Fans bekannt aus der Mockumentary „Discounter“. Während ihrer phlegmatischen Supermarktkassiererin Lia ab Mittwoch in 4. Staffel jede Energie zur Renitenz fehlt, konzentriert sie Amelies Zorn in so glaubhaften Hass, als sei Bloching ebenfalls Gewaltüberlebende. Wahrscheinlich wäre es.
Schließlich hat das BKA vor acht Tagen die Statistik geschlechtsspezifischer Kriminalität veröffentlicht. Allein im häuslichen Bereich ist sie seit 2019 um 17 Prozent auf 181.000 Fälle gestiegen. Wie bei Vergewaltigungen (+6%) oder Online-Vergehen (+25%) dürfte die Dunkelziffer ein Vielfaches der angezeigten Delikte betragen. Bei ihrer Präsentation erwähnte Innenministerin Faeser natürlich auch, dass Opfer wie Täter nach Herkunft, Status, Beruf oder Bildung das ganze Spektrum der Gesellschaft abbilden. Amelies Vergeltung gilt daher keiner zwielichtigen Gestalt im Park.
Sondern. Uns. Allen. Hier kriegen also nette Chirurgen und coole Influencer Amelies entlarvende Zauberkraft ab. Eigentlich ist Magie zwar wie Amnesie oder Zeitreisen ein billiger Trick, um surreale Handlungen plausibel machen. Zum Glück aber nutzt ihn van Damke fernab noch billigerer Klischees. Während Amelies Chef (Bernhard Schütz) ein Schmierlappen alter Sexismus-Schule ist, wird Amelies Vendetta von seiner Personalchefin (Jasmin Shakeri) untergraben, die einst von ihm belästigt wurde. Nasrins Antwort auf Amelies Racheangebot: „Ich behalt lieber meinen extrem gut bezahlten Job, vielen Dank“.
Das ist so famos gescriptet, gedreht, gespielt, dass man sich fragt, was „Angemessen angry“ genau zur besten Serie ihrer expandierenden Art macht: die Selbstermächtigung weiblicher Objekte wie zuletzt in „Bad Influencer“ und „Sexuell verfügbar“? Oder dass sich Amelie – gern durch die vierte Wand – darüber mit obszöner Ironie lustig macht? Die nüchterne Thematisierung tradierter Geschlechtshierarchien durch aufpoppende Polizeimeldungen erfolgloser Strafanzeigen? Oder doch ihre Parodie in der imaginären Quizshow „Wer wird freigesprochen“, wo Nasrin Vergewaltiger fragt, wie viele davon angezeigt werden (25%) und wie viele verurteilt (8%)?
Der ständige Wechsel zwischen Sozialdrama und Satire, Intimität und Slapstick, Aelrun Goette und Quentin Tarantino ist so virtuos, dass selbst seltene Makel kaum stören. Amelies Freunde Jo (Shakiba Eftekhari-Fard) und Tristan (Bless Amada) etwa müssen marginalisierte Randgruppen im Bild der heteronormativen Mehrheit ein bisschen arg schwarz, schwul, schwergewichtig sichtbar machen. Und die Eskalation der Gegengewalt biegt Mitte der Serie etwas abrupt Richtung Splatter ab. Aber das sind Randnotizen.
Denn der Text brilliert nicht nur durch die Ambivalenz der Hauptfigur, die sich nebenbei prostituiert und Sätze wie „auf Tinder gibt’s entweder Reste oder Resteficker“ abkotzt; sie erstellt auch ein wissenswertes Glossar toxischer Kommunikation von „male tears“ über „deflecting privileges“ bis „sex positivity“. Ob ihr Gegenangriff nur angry oder auch angemessen ist, lässt die Serie indes offen oder delegiert es an Amelies Oma. „Ganz schön extrem und gefährlich“, kommentiert sie Hysterias viralen Rachefeldzug, „aber in einer gefährlichen Welt muss man wohl zu extremen Mitteln greifen“. Muss man? Dazu liefert „Angemessen angry“ zwar keine Antwort. Selten zuvor jedoch war Unkenntnis unterhaltsamer.
"Angemessen Angry" steht bei RTL+ zum Abruf bereit.