Die neue Zeit alter Gewalt ist für Vernunftbegabte auch eine der Abwägung: lügen, wüten, betrügen wir mit im Chor der Trumps, Reichelts, Höckes oder hilft uns Michelle Obamas geflügelter Satz when they go low, we go high durchs Dunkel unserer Epoche? Ephraim Zamir hat sich für ersteres entschieden und geht sogar tiefer als die Feinde der pluralistischen Demokratie. Als der Holocaust-Überlebende von Neonazis überfallen wird, übt er blutige Selbstjustiz, die alle Welt miterleben darf.

So geht die Erzählung von Peter Grandls Debütroman „Turmschatten“, den The Amazing Film Company kurz nach der Veröffentlichung 2020 verfilmen ließ. Da Paramount+ kurz danach den Markt deutscher Fiktionen räumte, ist sein Sechsteiler jetzt bei Sky gelandet, wo wir ab heute Zeugen einer Selbstverzwergung werden. An der Seite von Christian Limmer hat Grandl den Stoff nämlich höchstpersönlich auf Drehbuchmaß gedrechselt. Hätte er das doch mal bleiben lassen…

Als Ephraim Zamir darin fast 70 Jahre, nachdem die SS seinen Zwillingbruder zu Forschungszwecken ermordet hatte, ins Land der Täter zurückkehrt, lässt er sich einen Hochbunker zur Festung aufrüsten. Weil er parallel den Bau einer Synagoge finanzieren will, kriegt er bald darauf Besuch von zwei Faschos, die seine Haushälterin töten. Na, da haben sie sich, wie sagt man: mit dem Falschen angelegt. Der Mossad-Veteran überwältigt die Angreifer, um sie im Keller Marke „Saw“ einem Verhör zu unterziehen, das er live ins Internet streamt.

Zwischen Schleyer-Entführung und Schirach-Verfilmung inszeniert er einen Schauprozess, in dem das Online-Publikum abstimmt, ob der pöbelnde Nazi-Skin Steiner (Paul Wollin) und sein leiser Komplize Karl (Klaus Steinbacher) hingerichtet werden. Sobald 100.000-mal auf „Tod“ geklickt wurde, gehen sie ins Gas. Zyklon-B. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und während ihr Kläger, Richter, Henker sein biblisches Donnerwetter basisdemokratisch über sie niedergehen lässt, entfacht die Aufmerksamkeitsindustrie draußen vorm Turm ein Fegefeuer auf Erden.

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Rechte Hooligans und autonome Antifas marschieren. Der private Pöbelkanal TelePro überträgt live. Und mittendrin Hundertschaften der Polizei, die mit Karls Bewährungshelferin Schlimmeres verhindern will. Soweit die Romantheorie. Denn in der TV-Praxis ist sie drei bis 300 Nummern zu groß. Denn weil auch solvente Entertainer wie Paramount+ Budgetzwänge kennen, muss Regisseur Hannu Salonen – der gerne zwischen Genie („Ich bin Dagobert“) und Wahnsinn („Die Hebamme“) pendelt – Grandls Massenaufläufe auf Seifenopernmaße stutzen.

Während sich Zamir im stabilen Wehrturm verschanzt, spielen drei Dutzend billig kostümierte Komparsen davor Bürgerkrieg gegen vier, fünf unbewaffnete Streifenpolizisten, die dem Miniaturmob auch deshalb stundenlang Paroli bieten, weil er nur 20 der 2000 Meter langen Flatterbandbarriere belagert. Ziemlich fair also, diese Randalierer. Doch wer denkt, das sei schon der lächerlichste Unfug einer Literaturverfilmung auf Groschenroman-Niveau, sieht sich getäuscht – wirkt Salonens Politaction verglichen mit der Medienschelte doch geradezu dokumentarisch.

Die rasende Reporterin Stefanie (Sina Reiß) ist ein Frag-doch-mal-die-Maus-Mix aus Benjamin Blümchens Karla Kolumna und Rupert Murdochs Tucker Carlson, also ähnlich authentisch wie der Twist, dass ihr die Polizei Exklusivrechte an einer singulären Geiselnahme gewährt. Irgendwann taucht zwar das SEK auf; aber vorerst, um öffentlich-rechtliche Journalisten zu verjagen. Bei so viel unfreiwilliger Komik dürfte es am bayerischen Set mit Lüdenscheider Kennzeichen vorwiegend heiter zugegangen sein.

Umso höher ist es Heiner Lauterbach anzurechnen, viereinhalb Stunden sein steinernes Standardgesicht zahlloser Historien-Mehrteiler überm unverwüstlichen Leib zu halten. Dank dieser Physis ist er fraglos die Idealbesetzung des verbitterten Einzelkämpfers auf Rachefeldzug. Weil sein kerniger Stoizismus in Lauterbachs Alterskohorte abgesehen von Heino Ferch alternativlos ist, sorgt er aber doch nur für den nächsten Fremdschamsturm im Schattenturm. Denn um die Deportation des 71-Jährigen als Kind plausibel zu machen, wurde Zamirs jüdischer Rachefeldzug nochmals fünf Jahre vorverlegt.

Wenig Interesse an Metaebenen

Leider geben sich Salonens Ausstatter abgesehen von Handys (Nokia), Autos (Mercedes), Uniformen (beigegrün) aber kaum Mühe, das Handlungsdatum 2005 nachzustellen. Internet, Frisuren, Mobiliar, Kleidung und die schwarze (!) Einsatzleiterin (!!) im Glitzer-Tanktop (!!!) sind zwar auf heutigem Stand. Alle Nazis dagegen erinnern an die Baseballschlägerjahre nach der Wende. Selten sind Zeit und Raum einer Fiktion mit Wahrhaftigkeitsanspruch so sichtbar durcheinandergerasselt.

Das ist auch darum so ärgerlich, weil „Turmschatten“ dank der Musik (Martina Eisenreich & Michael Kadelbach) überm steigenden Abstimmungsbarometer echt spannend ist und abseits vom Thriller sogar einiges mitzuteilen hätte. Wie Ferdinand von Schirachs interaktives Prozessdrama „Terror“ stellt Peter Grandl kluge Fragen nach den Grenzen der Moral und füttert sie mit Flashbacks in die biografischen Beweggründe vieler Figuren. Ob das liberale Niveau wirklich steigen sollte, wenn illiberale Populisten es gezielt senken – hier muss man die Frage nicht unbedingt bejahen wie Michelle Obama.

Schade, dass die Serie wenig Interesse an Metaebenen entwickelt. Auch deshalb wird die Haushälterin darin durch Zamirs Adoptivtochter ersetzt. Auch deshalb erinnert der sinistre NPD-Chef Thielen (Michael Roll) verteufelt an Thomas Kretschmanns rechtsesoterischen Salon-Nazi im Sat1-Quatsch „Die Grenze“. Auch deshalb wird dem braunen Überzeugungstäter Karl eine jüdische Ex (Deleila Piasko) angedichtet. Auch deshalb schafft es ausgerechnet Ilja Richters Rabbi Moshe glaubhaft aus der Riege wandelnder Klischees hervorzustechen. Was „Turmschatten“ auch deshalb nie ist? Bei Sinnen erträglich!

"Turmschatten" läuft ab dem 15. November freitags in Doppelfolgen bei Sky Atlantic - oder zum Abruf bei Sky Q und Wow.