Das menschliche Dasein, ob wohlgefällig oder ungehörig, kennt weder Skripte noch Cuts. Es ist ein fortwährend fließender, weitverzweigter, pausenloser Strom zufällig oder schicksalhaft verknüpfter Handlungsfäden im Drama der Existenz, das lebenslang dauert. Eigentlich. Denn RTL+ verdichtet es heute kurz auf wenige Stunden Winternacht, in der ein Junge namens Tim Richtung Untergang schlingert. Und wie die deutsch-japanische Regisseurin Mariko Minoguchi den 18-Jährigen nach ihrem Filmdebüt „Mein Ende. Dein Anfang“ in Szene setzt, das ist so ungeschnitten wie unser Dasein selbst.

Berauscht von einem Cocktail toxischer Substanzen, stolpert er aus einem Holsteiner Club ins Freie, wo erst Rettungskräfte, dann Hausbesitzer, zuletzt Polizisten die Hilfe unterlassen, bis es zum Äußersten kommt. Das darf man ruhig spoilern. Minoguchis 60-minütiger Absturz bildet schließlich den Auftakt eines Anthology-Vierteilers im Fach True Crime, das bekanntlich selten happy endet. Schon gar nicht, wenn die Klammer „Zeit Verbrechen“ lautet.

Seit 2018 macht Sabine Rückert im Auftrag der Wochenzeitung Schwerstkriminalität zu Podcast-Recherchen mit bis zu fünf Millionen Streams pro Folge. Voriges Jahr haben verschiedene Filmemacher ein paar davon nicht nur hör-, sondern sichtbar gemacht. Doch weil sich Paramount+ danach aus der deutschen Fiktion zurückzog, fehlte dem Format – das auf der Berlinale noch Jubelstürme entfacht hatte – die Plattform. Bis RTL+ einsprang. Und dort erleben wir nicht weniger als eine Sensation in vier Akten.

Der erste brilliert durch den jungen Samuel Benito auf seinem Horrortrip durchs Dunkel hiesiger Teilnahmslosigkeit. Wie die Kamera dem hilflosen Tim in einer einzigen Einstellung 40 Minuten beim Kollabieren beobachtet und dabei Fragen nach Fürsorge, Empathie, Erbarmen stellt – das lässt sich auf so kurzer Strecke kaum dringlicher spielen. Am erstaunlichsten aber ist, dass „Dezember“, wie die Podcast-Folge „Bei Anruf Tod“ hier heißt, gar nicht der beste Reihenbeitrag ist. Denn den liefert Helene Hegemann.

Zeit Verbrechen © RTL / 2024 Viacom International Inc. All Rights Reserved

Nach eigenem Drehbuch zerlegt die Abrissbirne des deutschen Kulturbetriebs („Axolotl Roadkill“) das Regelfachwerk ortsüblicher Court-Room-Dramen. Anstatt die Ruinen wie ihre Urahnen der Berliner Schule um Alexander Kluge bloß trübe auszuleuchten, lässt sie daraus das intensivste Kriminalstück seit Fatih Akins „Kurz und schmerzlos“ auferstehen. Zu Gericht sitzen darin fünf Sandkastenfreunde, die angeklagt sind, ihren Kumpel Cem (Zethphan Smith-Gneist) abgeschlachtet zu haben.

Hegemann begleitet die jungen Männer aber nicht nur vom Ursprung ihrer brutalen Tat zur juristischen Aufarbeitung und zurück; ihre „griechische Komödie“, die sie zwischen „Taxi Driver“ und „Hamlet“ verortet, dringt dank eines fantastischen Ensembles gestandener Profis (Lavinia Wilson) und talentierter Laien (Adrian Vasile But) tief ins Unterbewusstsein unserer Befindlichkeiten ein, verkneift sich dabei aber den Perfektionismus der True Crime Ferdinand von Schirachs.

Während bei dem jeder Satz so perfekt sitzt wie die Roben der Richter, wird in „Deine Brüder“ geschwafelt, geschwiegen, gestammelt, also wahrhaftig kommuniziert. Wer gängige Klischees über jugendliche Enthemmung und erwachsene Hybris plausibel dekonstruiert sehen will, kriegt von Hegemanns Meisterwerk also den perfekten Vorschlaghammer – und damit zwar das beste, aber nicht eigensinnigste „Zeit Verbrechen“. Vergleichbar dem ARD-Projekt „Dreileben“, wo Christian Petzold, Dominik Graf, Christoph Hochhäusler 2011 ein und denselben Kriminalfall aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet haben, gibt X-Filme seinem Regiequartett verschiedene Straftaten zur Hand, die es nicht nur individuell, sondern gegensätzlich interpretiert.

Bruch mit eingeübten Film- und Fernsehbräuchen

Jan Bonny siedelt die ultrabrutale Gangsterballade „Der Panther“ folglich im migrantisch geprägten Gang-Milieu an. Lars Eidinger entfesselt seinen Polizeispitzel jedoch so fiebrig zum Traumtänzer mit Schulden-, Gewalt- und Drogenproblem, dass seine Komplizen im Vergleich so nüchtern wirken wie der Möbelladen, wo sie ihre Raubzüge starten. Tränen und Wut, Kotze und Blut, Angst und Schweiß dürfen dabei aussehen, als würde der Bühnenberserker aus Berlin all dies in Leverkusen leibhaftig aussondern. Selten hat der Bildschirm authentischer nach Industriegosse gerochen – was beim König künstlicher Aggressionen als Titelfigur unbedingt für Bonnys Regiearbeit spricht.

Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Faraz Shariats Serienfinale am cineastischsten gerät. Ausgerechnet, weil es zur Hälfte in Ghana spielt, wo die US-Amerikanerin Earle (Maja Simonsen) mithilfe des deutschen Witwers Ralf (Jan Henrik Stahl) das Erbe eines ermordeten Goldminenbesitzers antreten soll. Der Titel „Love by Proxy“ scheint zwar bereits anzudeuten, dass hinter der Fernbeziehung über alle Alters-, Sprach- und Landesgrenzen hinweg womöglich eher ein Server als Liebe steckt.

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Aber wie der iranische Kölner Shariat („Druck“) konträre Realitäten so vermengt, dass der dubiose Mr. Saw (Fiifi Jefferson Pratt) mal ein Betrüger ist, dem Ralfs Tochter (Sandra Hüller) misstraut, mal ein Samariter, der Earles Heimkehr organisiert – das ist ein meisterhaftes Vexierbild. Vor allem aber dreht es nahezu jedes Vorurteil über Entwicklungs- und Industrienationen ins genaue Gegenteil um. Damit gelingt der „Venusfalle“, wie der Fall bei Sabine Rückert hieß das, was alle vier Teile von „Zeit Verbrechen“ eint.

Sie machen Objekte zu Subjekten und umgekehrt, siedeln diese Paradigmenwechsel nicht in deutschen Krimihauptstädten, sondern Accra, Kassel, Lübeck an, und falls doch mal auf Berliner Erde geblutet wird, dann im biederen Rudow, dessen Reihenhausbewohner agieren wie Weddinger Clankriminalitätsstereotypen. So viel Bruch eingeübter Film- und Fernsehbräuche gab es selten zuvor in so vielfältiger Gestaltung. „Zeit Verbrechen“ ist ein echtes Geschenk. Und heute dürfen wir es endlich auspacken.

"Zeit Verbrechen", ab sofort bei RTL+