Unser Gleichgewichtssinn, Weltkriegsveteranen und Wirtschaftswunderkinder stimmen sicher zu, war einst rein physikalischer Art. Wer aus dem Lot geraten ist, machte sich gerade. Fertig! Auch für Traditionsbewusste der Generationen X-Z passen Mental Health und Work-Life-Balance zwar in Schweigeklöster und Yogakurse. Aber gewiss nicht zum Stresslevel ehrgeiziger Rechtsanwälte wie Björn Diemel. „Achtsamkeit“ verunglimpft er sarkastisch als „Aufguss des immergleichen Esoteriktees“, in einem Wort: Unfug.
Das sieht der Adressat seiner Sottise naturgemäß ein bisschen anders. Es ist ein Achtsamkeitscoach, zu dem Katharina Diemel (Emily Cox) ihren Mann (Tom Schilling) schickt, weil er vor lauter Arbeit sogar den 4. Geburtstag seiner Tochter vergessen hat. Im Lauf einer heiteren Thriller-Groteske sitzt der ausgebrannte Zyniker also im fußballfeldgroßen Loft des unerträglich bedächtigen Leinenanzugträgers Joschka Breitner (Peter Jordan), lässt sich die Vorzüge bewussten Atmens, Fühlens, Lebens erklären, und siehe da – es wirkt.
Nach anfänglicher Skepsis beginnt sich der Workoholic zu ändern. Björn räumt nicht nur „Zeitinseln“ für sich und Töchterchen Emilia frei; er plant eine Vater-Kind-Reise zur Villa am See seines wichtigsten (weil einzigen) Mandanten. Zu dumm, dass es der Berliner Unterweltboss Dragan (Sascha Geršak) ist, für den Björn seit Jahren die juristische Drecksarbeit erledigt. Oder wie er es einmal ausdrückt: „Ich verdiente mein Geld, indem ich schlechten Menschen Gutes tat.“ Dass er schlechten Menschen aber auch Schlechtes tut, zeigt hingegen der Titel des Netflix-Achtteilers: „Achtsam morden“.
Denn als Dragan seinen Syndikus vom Weg ins kleine Familienglück zum Notfalleinsatz abruft, eskaliert das auskömmliche Geschäftsverhältnis im Stile kriminalistischer Kettenreaktionen von „Hindafing“ bis „Kleo“. Fast wirkt es dabei, als hätte Guy Ritchie „Breaking Bad“ eingedeutscht. Wie in dessen Netflix-Serie „The Gentlemen“ schlittert ein grundsätzlich friedfertiger Mann schließlich auf der Blutspur unvorhergesehener Kapitalverbrechen tief und tiefer ins Verderben.
Dank Joschka Breitners Hilfe jedoch balanciert Björn Diemel den Absturz ins Bodenlose so achtsam aus, dass seine Schwerverbrechen mental geradezu gesundheitsfördernd wirken. Um welche genau es sich dabei handelt, was brennende Konkurrenten, zerhäckselte Leichen oder abgeschnittene Finger damit zu tun haben und wie sich all dies mit Zwischentönen über gläserne Decken, Helikoptereltern, unserem Konsum- und Sicherheitswahn zur Sinfonie des realen Wahnsinns fügt – das auch nur anzudeuten, würde der Regie von Max Zähle und Martina Plura hier jede Spannung rauben.
Deshalb nur so viel vorweg: Wenn Dragan zu Beginn dieser Abwärtsspirale „welcher Idiot fährt denn nachts mit 50 Kindern auf einen Parkplatz, wo andere Leute Geschäfte machen?!“ fragt, sich selbst „so was macht man nicht!!“ antwortet und „ich liebe Kinder!!!“ ergänzt, liegt die Messlatte der Serienadaption von Karsten Dusses gleichnamigem Bestseller da, wo sie hingehört: auf höchstem Niveau. Dorthin hat es der dreiköpfige Writers Room um Doron Wisotsky – geschult durch Screwball-Klamauk wie „Schlussmacher“ und „One Night Off“ – geschrieben. Dorthin spielt es vor allem einer: Tom Schilling.
Wie er seine materialistischen Zweifel an Joschkas Spiritualität buchstäblich blauäugig abbaut; wie er die rassistischen Stereotype arabischstämmiger Clankriminalität im Kampf mit der osteuropäischen weglächelt; wie er Angst, Ungeduld, Stress, Panik im virtuellen Zwiegespräch mit seinem Achtsamkeitscoach wegatmet; wie er dennoch immerzu scheitert und uns durch die dritte Wand erklärt, warum – das scheint Tom Schillings singuläres Gesamtwerk auf den Punkt zu bringen. Besser: zu komplettieren.
Allein schon die kontrollierte Nervosität, mit der Björn den drei Betreibern seiner erzkonservativen Anwaltskanzlei mit Vorzimmerdame Misogynie-Vorwürfe vor alte, weiße Männerköpfe knallt, ist jede der 30 Minuten pro Folge wert und zeigt, wie Schilling ganze Serien im Alleingang trägt. Was bei diesem Cast was heißen will! Sascha Geršak erratischer Drogenboss Dragan und Emily Cox‘ kontrollsüchtige Hockey-Mom Katharina, Marc Hosemanns jähzorniger Kettenhund Toni und Britta Hammelsteins verbissene Ermittlerin Nicole, Murathan Muslus flüsternder Capo Sascha und Peter Jordans vorurteilsfreies Therapeuten-Klischee Joschka – sie alle manövrieren ihre Figuren virtuos am Rande der steilen Klippe Persiflage entlang, ohne abzustürzen.
Dass die Gewaltexzesse der Kriminellen dabei gelegentlich selbstreferenziell wirken, ihre Charakterzüge leicht rassistisch oder drei androgyne Kita-Erzieher wie von Mario Barth für die AfD ersonnen, während der mutmaßliche Polizeispitzel übertrieben unauffällig agiert, fällt daher kaum ins Gewicht. Dafür ist die Adaption schlicht zu pfiffig, zu tragisch, zu clever, zu amüsant, zu deep, zu brachial, also in einem Wort: zu gut. Noch besser ist allerdings, dass Karsten Dusse – übrigens kein Achtsamkeitscoach, sondern Mietrechtsanwalt – vier Fortsetzungen von „Achtsam morden“ in petto hat. Tom Schilling und Netflix, Oliver Berben und Constantin: bitte beherzt zugreifen!
"Achtsam Morden" steht ab dem 31. Oktober bei Netflix zum Streamen bereit.