Michael Schleiermacher traute seinen Augen nicht. Als er am Dienstagmorgen auf sein Smartphone schaute, entdeckte er zahlreiche Nachrichten, verschickt an seinen Instagram-Account. Der Inhalt: Beschimpfungen, übelste Beleidigungen, teils sogar Drohungen. Und das alles nur, weil Schleiermacher an einer Fernsehsendung teilgenommen hatte.
Am Abend bevor die Flut an Hassnachrichten über ihn hereinbrach, war Schleiermacher in der Diskussionssendung "Die 100 – Was Deutschland bewegt" mit Moderator Ingo Zamperoni zu sehen, die nach mehreren Testläufen in den Dritten Programmen erstmals vor fast zwei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern im Ersten lief. Das Konzept: 100 Menschen sollen zu einem gesellschaftlichen Thema Stellung beziehen, nachdem Fakten und Argumente ausgetauscht wurden. Abgestimmt wird dabei im wahrsten Sinne des Wortes mit den Füßen, indem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entweder auf der "Ja"- oder der "Nein"-Seite des Studios positionieren – je nachdem welche Argumente sie am überzeugendsten fanden.
Die Ausgabe vom Montag befasste sich mit der Frage "Ist die AfD eigentlich ein Problem?" und ließ im Laufe der Stunde viele unterschiedliche Protagonisten kurz zu Wort kommen, darunter ganz zum Schluss auch Michael Schleiermacher, über den an den Tagen danach selbst ausgiebig gesprochen werden sollte. Er habe seine Meinung geändert und halte die AfD für einen "Wolf im Schafspelz", erklärte er, als er von Zamperoni befragt wurde. Rückblickend, scherzt er im Gespräch mit DWDL.de, habe er mit diesen Worten offenkundig eine "Staatsaffäre" ausgelöst.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis in den sozialen Netzwerken massive Kritik an dem 54-Jährigen geäußert wurde. Viele, die offenkundig der AfD nahestehen oder Mitglied in der Partei sind, hielten Schleiermachers Sinneswandel zum Finale der Sendung für eine fingierte Sache. Erst recht, als ein schneller Blick auf das Instagram-Profil des Mannes aus Kaiserslautern offenbarte, dass er als "Komparse, Kleindarsteller, Protagonist" tätig sei. Dass er tatsächlich gelernter Bürokaufmann ist, wie es in der ARD-Einblendung stand, schien plötzlich niemanden mehr zu interessieren.
Richtig ist, dass Michael Schleiermacher in der Vergangenheit schon häufiger im Fernsehen mitwirkte. Er saß bei TV-Richterin Barbara Salesch im Publikum, wirkte bei der Vox-Kuppelshow "First Dates" mit und sprach einen Satz in der ARD-Serie "Die Zweiflers". Reich wird er dadurch nicht; er mache das, weil er Spaß daran habe, sagt Schleiermacher. Aus diesem Grund bewarb er sich auch als Teilnehmer für "Die 100" – ohne das eigentliche Thema zu kennen. Das nämlich wird den Diskutanten erst rund eine halbe Stunde vor der Aufzeichnung mitgeteilt. Daher habe es auch "weder einen vorgefertigten Text noch ein Drehbuch" gegeben, betont Schleiermacher im Gespräch mit DWDL.de. Auch Geld habe er nicht bekommen, nur eine Erstattung der Anfahrtskosten sowie einen 75-Euro-Zuschuss für die Hotelübernachtung am Aufzeichnungsort in Götting, bei der er letztlich sogar noch draufzahlte.
Die Verschwörungstheorien sind nun dennoch in der Welt. "Mittlerweile geistert in den Medien herum, ich sei ein bezahlter Schauspieler, die ARD habe 260.000 Euro für mich bezahlt und ich sei ein ehemaliges Mitglied der AfD. Das ist natürlich alles absoluter Quatsch", sagt er. "Es nervt, weil es nicht der Wahrheit spricht." Auch zwei Tage nach der Ausstrahlung ist die Zahl der Hassnachrichten, die Schleiermacher erhält, gewaltig. "Wer ist hier der Wolf im Schafspelz, der sich wie eine Prostiuierte buchen lässt und dem eigenen Volk in den Rücken fällt", fragt eine Person, die sich Lea nennt. Eine andere ätzt in ihrer Message: "Mal gucken, wie lange deine Hausanschrift privat bleibt." Und ein "Christian" droht ihm, ohne Rücksicht auf Zeichensetzung, gar indirekt: "Pass besser auf du Hund es wird wieder früh dunkel".
"Man weiß nie, ob ein Irrer darunter ist, der einem wirklich etwas antun will", sagt Michael Schleiermacher zu DWDL.de mit Blick auf die mal mehr, mal weniger unverhohlenen Drohungen. Befeuert wird der Hass, der Michael Schleiermacher seit Tagen entgegenschlägt, dabei ausgerechnet durch viele klassische Medien, die den fragwürdigen Sound der AfD und ihrer Gefolgschaft in die Mitte der Gesellschaft tragen. "ARD fliegt auf! Laien-Schauspieler wirkt bei Anti-AfD-Sendung mit", schrieb etwa das Funke-Portal "DerWesten" und selbst die vermeintlich seriöse "Frankfurter Allgemeine Zeitung" entschied sich in der Überschrift zu dem Thema lieber für ein raunendes Zitat von AfD-Chefin Alice Weidel als eine Darstellung der Fakten.
"Es wäre fatal, wenn es das Gift der Desinformation und Verunsicherung in die seriöse Berichterstattung einsickert."
Julia Saldenholz, Redaktionsleiterin von "Die 100"
Julia Saldenholz, die für "Die 100" zuständige Redakteurin beim NDR, hat dafür wenig Verständnis. "Mich erschreckt, dass ein Protagonist unserer Sendung dafür benutzt wird, um Stimmung gegen die ARD zu machen", sagt Saldenholz zu DWDL.de. "Man kann die Sendung ja kritisieren und auch darüber diskutieren, ob die Redaktion die 'richtigen' Menschen ausgewählt hat, dass aber ein Teilnehmer jetzt mit seinem Bild in die Öffentlichkeit gezerrt wird und in der Folge Drohungen erhält, weil er im Fernsehen seine Meinung äußert, ist eine gefährliche Entwicklung. Wir alle sind darauf angewiesen, dass uns Bürgerinnen und Bürger offen und ehrlich sagen, was sie denken. Das ist die Grundlage von gutem Journalismus."
In diesen "aufgeregten Zeiten" müsse man sehr genau hinschauen, "wer welche Meldung in die Welt setzt und mit welcher Intention", betont die NDR-Redakteurin. "Es wäre fatal, wenn es das Gift der Desinformation und Verunsicherung in die seriöse Berichterstattung einsickert." Dass einer ihrer Protagonisten nun mit Drohbriefen und Hass-Postings konfrontiert werde, erschrecke sie ebenfalls. "Diese Entwicklung ist gefährlich, denn wenn sie Schule macht, wird es immer schwieriger werden, Menschen zu finden, die bereit sind, ihre Meinung frei zu äußern. Das aber ist die Grundlage von gutem Journalismus."
Immerhin: Trotz der Erfahrungen der vergangenen Tage würde er noch einmal an der Sendung teilnehmen, sagt Michael Schleiermacher. "Den Schwanz einziehen und mich wegducken, das möchte ich nicht." Seine Botschaft: "Muss es wirklich sein, Menschen dafür fertig zu machen, wenn sie ihre Meinung frei äußern? Die Meinung eines anderen sollte man akzeptieren, ohne ihm dafür an die Gurgel zu gehen."