Wer die Wasserwege der Aufmerksamkeitsökonomie befährt, muss sich entscheiden: mit klobigem, aber sturmsicheren Kreuzfahrtkoloss durch den Mainstream aufs Meer rentabler Zugriffszahlen? Oder mit eleganter, aber windanfälliger Segeljolle über Seitenarme in abgelegene Tümpel des Feuilletons? Anna Rohde-Seyfried, per tankergroßem Titel International Creative & Content Editor als einflussreich gelabelt, nutzt für Beta Film zwar beide Routen. Die Kanäle von Qualität zur Quote und zurück jedoch, sagt sie auf der brandneuen Branchenkonferenz Seriesly Berlin, seien vielfach gesperrt.

Durch Zielgruppendenken, Nachfragepolitik, Publikumserwartungen oder was Anna Rohde-Seyfried vom Podium aus in den gefüllten Saal ruft: Rezeption. Um die Fixierung auf serielle Sehgewohnheit aufzubrechen, haben sich gut 300 Akteure der Serienlandschaft zwei Tage lang in Berlin-Mitte getroffen. Und siehe da: gleich das erste Screening schafft Erleichterung, ja Erlösung: Ein paar Schritte vom Festivalort entfernt, zeigt joyn die Ufa-Serie „Der Upir“. Und falls bei Festivalbeginn noch irgendjemand dachte, Masse und Klasse seien Gegensätze – hier wird das Gegenteil bewiesen.

Die Gruselgroteske, in der Rocko Schamoni Fahri Yardim zum Vampir in Ausbildung beißt, ist nicht nur wegen der zwei Hauptdarsteller mit bizarr noch gewöhnlich beschrieben. Nichts an Peter Meisters Achtteiler folgt Zielgruppendenken, Nachfragepolitik, Publikumserwartung, Rezeption oder Sehgewohnheit, aber die Begeisterung der 250 Kinogäste zeigt trotz und wegen der viel zu lauten Moderation von Gisa Flake: Auch dilettantischer Blödsinn kann auf eigensinnige Art massentauglich sein, sofern Herz, Hingabe, Überzeugung dahintersteckt.

Entlang dieser porösen Grenze wird in 16 Panels, sechs Workshops und ebenso vielen Erstaufführungen, darunter die niederländische Doku „The Underground Railroad“ als Weltpremiere, über Gegenwart und Zukunft des neuen Kinos Serie diskutiert; ein Format, das ein grassierender Marktbereinigungsprozess schon wieder ganz schön alt aussehen lässt. Die Podiumsdiskussionen dazu reichen vom Genre als trojanisches Pferd über die Schnittstellen zu Gaming und Social Media bis hin zur Position weiblicher Charaktere, Programmplanung von Amazon Prime oder Persönlichkeitsrechte.

Über alledem allerdings schweben drei aktuelle Kernfragen solcher Events: Welches Storytelling holt die fernsehferne GenZ zurück an den Bildschirm? Wie macht man Kreativität profitabel? Und eröffnet künstliche Intelligenz dabei mehr Chancen oder Risiken? Echte Antworten gibt es zweimal acht Stunden verteilt auf zwei Säle naturgemäß keine, aber gleich mal klare Kante. Bis zu 90 Prozent aller Geschichten, beklagt die schwedische Content-Beraterin Tatjana Samopjan in ihrer resoluten, tendenziell wütenden Eröffnungsrede, „sind nacherzählt“. Ein Recyclingprozess, den KI noch verstärke – erzeuge die doch vornehmlich „Premium-Mittelmäßigkeit“.

Weil Festival-Initiator Bastian Asdonk nicht nur das Serienloch der filmlastigen Berlinale füllen möchte, geht es jedoch um mehr als Krisengerede. Als Vernetzungstreff von Kreativen und Entscheidern, also Kunst und Kohle, möchte er „Brücken vom deutschen zum internationalen Markt“ bauen und langfristig „auch eine Verkaufsmesse“ sein. Als solche soll Seriesly Berlin weder MipCom Cannes noch Kölner Seriencamp kopieren, aber für Dienste, Sender, Produzenten ein Schaufenster in die Brutstätten fiktionaler Kreativität öffnen.

Leider sind (vorerst) weit mehr Kreative als Entscheider zur Oranienburger Straße gekommen, nicht wenige davon mit U- und S-Bahn. Constantin-CCO Jan Ehlert hatte wie Ufa-Produzentin Nataly Kudiabor immerhin eine ICE-Anfahrt, während der deutsche Prime-Chef Christoph Schneider aus München da ist und „Orange-is-the-New-Black“-Autorin Jinji Kohan per Fernstreckenflug. TV-Sender indes machen sich seltsam rar, viele Schwergewichte der Produktionsbranche ebenso. Als Moderator Pavlo Voytovych die anwesenden Gewerke probehalber klatschen lässt, ist der Applaus aufs Stichwort „Drehbuch“ demnach so viel lauter als bei „Produktion“, dass der hauptamtliche Comedian gut beraten ist, keine PR-Agenturen abzufragen.

Aber gut – aller Anfang ist schwer und dieser zumindest inhaltlich gehaltvoll. Das belegt schon die heimliche Hauptveranstaltung: „Seriesly Pitch“, bei der zehn Nachwuchsteams je drei Minuten (und keinen Moment länger) Zeit haben, Interessierten mit Kapital ihr Serienprojekt mit USP schmackhaft zu machen. Rockstar-Comedys sind darunter und Drama-Märchen, ein „Tiger King“ mit Reptilien und ein „Terminal“ ohne Tom Hanks. Dazu Kriegsveteranen, Clubkultur, Clan-Comedy. Vieles davon so, wie es sich Auftakt-Kritikerin Samopjan wünscht: Originell, riskant, out of the Box, wie Blicke über den Tellerrand auf einer englischsprachigen Veranstaltung heißen.

Schließlich sind Entdecker, fügt sie hinzu, „sexyer als Erklärer“. Der stereotyp-saftige Amazon-Blockbuster „Maxton Hall“, von dem hier irritierenderweise oft lobend die Rede ist, beweist zwar gleich doppelt das Gegenteil, sorgt aber auch für Erkenntnisgewinn: Deutsche Fiktion kann selbst dann global boomen, wenn sie in deutscher Sprache für deutsches Publikum konzipiert wurde. Wobei sicher nicht schaden kann, wenn es sich (Ausnahmen wie „Liebes Kind“ bestätigen die Regel) dabei um „guilty pleasure“ zum „comfort watching“ handelt, wie Nataly Kudiabor ihr Prime-Produkt selber umschreibt.

Noch überraschender ist allerdings die nächste Erkenntnis: lineares Fernsehen ist nicht tot! Als Beleg führt der englische Journalist Stewart Clarke den stinknormalen itv-Straßenfeger „Mr. Bates – The Postoffice“ ins Quotenfeld und erhält Unterstützung vom annähernd legendären TV-Macher Marc Lorber, der fast schon in Euphorie verfällt: Angesichts von jährlich 2000 Serien liege das Tal „eher hinter als vor uns“. Es gäbe daher „kein dramaturgisches, sondern höchstens finanzielles Problem“. Und das, dafür zahlen die Konferenzgäste 130 Euro Eintritt, sollen ja auch Veranstaltungen wie Seriesly Berlin lösen.

Trotz aller Ängste vor KI und Wiederholung, Mainstream und Verflachung, Geldmangel und Verdrängung herrscht also zarter Optimismus. Und niemand könnt ihn besser formulieren kann als Jenji Kohan: „Die Dunkelheit ist bloß dunkel“, sagt sie mit all ihrer Erfahrung aus drei Jahrzehnten Fernsehbüchern. Dystopien seien daher nicht so ihr Ding. Utopien aber auch nicht. Stattdessen fordert sie realistische Träumerei, „Protopie“ genannt, konzentriert in vier Worten: „Tell a fucking story“. Kein schlechtes Motto für die Seriesly Berlin 2025.