Wer sich bei stundenlangen Olympia-Übertragungen von ARD und ZDF über den Medaillenspiegel informieren will, muss lange wach bleiben. Erst ganz am Ende der Sendungen, üblicherweise gegen Mitternacht, lassen sich die beiden öffentlich-rechtlichen Sender dazu hinreißen, doch noch kurz den aktuellen Zwischenstand durchzugeben. Reichlich spät und ungewöhnlich selten. Früher, so formulieren es einige Nutzer in den sozialen Netzwerken, war das anders - und nicht wenige munkeln, dass das mit der Leistung der deutschen Athleten zusammenhängen könnte.
Tatsächlich fällt die Medaillen-Bilanz des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) bisher eher durchwachsen aus. "Die Leistung von Team D stimmt, allerdings haben wir noch Luft nach oben bei den Medaillen", erklärte der Chef de Mission des deutschen Olympia-Teams am Wochenende auf einer Pressekonferenz. Nach sieben Tagen gab's nur zwei Mal Gold, drei Mal Silber und zwei Mal Bronze - zwei Medaillen weniger als noch bei den Olympischen Spielen in Tokio, an deren Ende dann aber immerhin noch 37 deutsche Medaillen standen, darunter zehn goldene. Als Erfolg wurde dieses Ergebnis aber schon vor drei Jahren nicht gewertet.
Spielt der Medaillenspiegel also auch wegen des mangelnden Erfolgs eine geringere Rolle? Der Eindruck, dass ARD und ZDF ihn seltener thematisieren, täuscht jedenfalls nicht. "In der Tat blicken wir in den TV-Sendungen weniger auf den Medaillenspiegel als früher", bestätigt eine ARD-Sprecherin gegenüber DWDL.de. Gleichzeitig verweist sie jedoch darauf, dass er nach den letzten "Olympia-News" des Tages "fester Bestandteil der Sendung" sei. "Der Medaillenspiegel erschließt sich mit den vielen Zahlen im TV auch weniger gut als bei 'Sportschau.de', wo er ein festes prominent platziertes Element ist."
Fragen warf der klassische Medaillenspiegel ohnehin schon immer auf - auch, weil Goldmedaillen traditionell stärker gewichtet werden als Silber und Bronze. So zählten die USA beim Zwischenstand am Montagnachmittag zwar über 20 Medaillen mehr als China, lagen aber dennoch nur auf dem zweiten Rang - weil die Chinesen zu diesem Zeitpunkt zwei goldene Medaillen mehr gewonnen hatten als die Amerikaner. Auch unter den Athleten selbst gibt es bisweilen Unmut. Der Medaillenspiegel könne gerne weg, sagte die Beachvolleyballerin Karla Borger schon vor drei Jahren im "Deutschlandfunk". "Ich wünsche mir einen ehrlichen, einen sozialen Sport und dass dieser Fokus eben auf der Freude am Sport treiben liegt. Und dass wir uns auf den Weg konzentrieren und nicht, ob dann am Ende eine Medaille rauskommt oder nicht."
Ohnehin zeugt der Medaillenspiegel durchaus von einem eigentümlichen Verständnis, erweckt er doch den Eindruck, Staaten anstelle der Sportlerinnen und Sportler in den Mittelpunkt zu stellen. Tatsächlich sei es beim Leistungssport immer auch "um die Auseinandersetzung von Gesellschaftssystemen" gegangen, also um die Frage, welches System leistungsfähiger sei, zitierte der "Deutschlandfunk" den Sportwissenschaftler Lutz Thieme, der den Medaillenspiegel für ein "Relikt des Kalten Krieges" hält. Wenn man Medaillen wolle, dann müsse man auch über das Wertesystem nachdenken und darüber, wie weit man gehen will, um die Medaillen zu erreichen.
Für den DOSB geht es unterdessen nicht ausschließlich um die ersten drei Plätze. Olaf Tabor etwa verwies am Wochenende auf vier vierte und neun fünfte Plätze sowie insgesamt 35 deutsche Platzierungen zwischen dem vierten und achten Rang, für den Sportlerinnen und Sportler ja auch noch mit einem Geldbetrag bedacht werden. Die deutsche Mannschaft performe damit "auf internationalem Spitzenniveau", erklärte der Chef de Mission und argumentierte damit ganz ähnlich wie es nun auch ARD und ZDF hinsichtlich des Medaillenspiegels tun. Streng genommen passt das dann auch ganz gut zum olympischen Gedanken, der angesichts von mehr als 300 Wettbewerben in zwei Wochen oft in den Hintergrund rückt: Wichtiger als das Gewinnen ist das Dabeisein.