Krise? Welche Krise? – dieser Eindruck hätte sich fast aufdrängen können bei den Auftritten und Präsentationen der Streaming-Riesen auf dem Series Mania Forum im nordfranzösischen Lille. Ein Hauch Großspurigkeit, gut verpackt in antrainierter Start-up-Attitüde und aus Boomzeiten bewährtem "One more thing"-Verkündungsmodus, schien auch nach den branchenweiten Produktionsrückgängen der Kommunikationsstil der Wahl zu sein. Dass die vergangenen Monate von Projektabbrüchen und Plattformbereinigungen geprägt waren, fand allenfalls am Rande Erwähnung.
Man musste schon auf den Subtext achten, um Unterschiede festzustellen. So hatte Platzhirsch Netflix das meiste Sponsorengeld nach Lille getragen, was in einer durchgestylten Marketing-Show ohne Raum für kritische Nachfragen resultierte. Dafür lag der Anteil handfester Neuankündigungen inmitten von allgemeinem Strategiegeplänkel bei Netflix höher als bei Disney und bei Disney wiederum höher als bei Warner Bros. Discovery, dessen französisches Team seinen Halbstunden-Slot nicht einmal ausschöpfte.
Übertroffen wurden freilich alle vom britischen Produktions- und Vertriebsriesen BBC Studios, der mit Abstand die meisten neuen Projekte in seinen Showcase packte. Aus deutscher Sicht besonders interessant: Matt Forde, Chef der Global-Entertainment-Sparte, verwies nicht nur auf die Verpflichtung der früheren Bantry-Bay-Produzentin Eva Holtmann als deutsche Head of Fiction (DWDL.de berichtete), sondern nannte auch deren erstes großes Projekt – ein Remake der britischen Comedy-Serie "Ghosts", das BBC Studios unlängst an einen deutschen TV-Sender verkauft hat. "Welchen, darf ich noch nicht sagen", so Forde auf Nachfrage.
Die Sitcom rund um eine Handvoll Geister aus verschiedenen historischen Epochen, die sich ein Landhaus mit dessen neuen Bewohnern, einem jungen Ehepaar, teilen müssen, ist auf dem besten Weg zum nächsten großen Format-Hit: BBC Studios, das sich in Lille als die Gruppe mit den meisten Format-Adaptionen weltweit bezeichnete, hat die von 2019 bis 2023 auf BBC One ausgestrahlte Serie bereits erfolgreich in den US-Markt exportiert, wo "Ghosts" bei CBS läuft und gerade um eine vierte Staffel verlängert wurde.
Eine eindrucksvolle Demonstration ihrer internationalen Ambitionen gelang auch der Constantin Film. Jan Ehlert, der beim Münchner Konzern jetzt den Titel des Chief Content Officer für TV und Streaming trägt, gab erste Einblicke in drei Großprojekte: Von den gerade in Finnland laufenden Dreharbeiten zum Sechsteiler "Smilla's Sense of Snow" war Produzentin Alicia Remirez nach Lille gekommen und sprach darüber, dass die politische Relevanz des 30 Jahre alten Bestsellers von Peter Hoeg aktueller denn je sei. Der im Jahr 2035 in einem nationalistischen Überwachungsstaat angesiedelte Thriller entsteht für Viaplay in Skandinavien und ARD Degeto in Deutschland und soll im vierten Quartal fertig werden. Filippa Coster-Waldau und Elyas M'Barek spielen unter "Handmaid's Tale"-Regisseurin Amma Asante die Hauptrollen. ITV Studios übernimmt den Weltvertrieb.
Zu 90 Prozent im Prager Studio und zu zehn Prozent in den Gletschern von Island sei die bildgewaltige Nibelungen-Verfilmung "Hagen" gedreht worden, berichtete deren Produzent Christian Rohde. Das Hybrid-Projekt vom "Der Pass"-Duo Cyrill Boss und Philipp Stennert kommt Ende Oktober als Spielfilm ins Kino und im ersten Halbjahr 2025 als Sechsteiler zu RTL und RTL+ – laut Rohde "zwei verschiedene Seherlebnisse, die sich nicht gegenseitig ausschließen". Während der Film eng an der vom Niederländer Gijs Naber gespielten Titelfigur Hagen von Tronje bleibe, eröffne die Serie deutlich breitere Storylines. Beide werden momentan getrennt voneinander geschnitten und enthalten jeweils auch exklusive Szenen. Um den Vertrieb kümmert sich hier Fremantle. Noch in der Buchphase befindet sich der ebenfalls vorgestellte Sechsteiler "Nürnberg" von Creator Frank Spotnitz, Lead-Regisseur Christian Schwochow und Produzent Friederich Oetker (DWDL.de berichtete).
Dass selbst Netflix mittlerweile verstärkt für Koproduktionen und andere flexible Produktionsmodelle offen sei, war wiederum eine der zentralen Botschaften von Larry Tanz, EMEA-Content-Chef des Streaming-Giganten: In Europa besitze Netflix derzeit nur rund 25 Prozent der Rechte an den auf der Plattform vertretenen IPs. Unter Tanz' Neuankündigungen ließen vor allem "Amsterdam Empire", eine neue Crime-Serie von "Undercover"-Showrunner Nico Moolenaar mit Famke Janssen in der Hauptrolle, sowie eine noch titellose französische Thriller-Serie mit Isabelle Adjani aufhorchen.
Disney+ nutzte die Series Mania, um die historische Comedy-Serie "Vienna Game" von der österreichischen Satel Film fürs zweite Halbjahr 2025 anzukündigen (DWDL.de berichtete), ebenso wie aus Frankreich die gerade im Dreh befindliche True-Crime-Verfilmung "The Lost Station Girls" mit "Emily in Paris"-Star Camille Razat und aus Spanien die 70-teilige Daily Soap "Return to Las Sabinas" von der dortigen Banijay-Tochter Diagonal TV, die über 14 Wochen jeweils montags bis freitags veröffentlicht werden soll. Man spiele mit Disney+ "nicht im Volume Game", gab Liam Keelan, Chef der Eigenproduktionen im EMEA-Raum, zu Protokoll. Dennoch fiel auf, dass die Schlagzahl der Projekte in Frankreich – allein dort 13 Originals innerhalb der letzten zwei Jahre – deutlich höher ausfällt als in Deutschland.
Warner Bros. Discovery schließlich stellte den Rollout seiner Streaming-Plattform Max, die Inhalte der bisherigen Angebote HBO Max, Discovery+ und Eurosport Player zusammenführt, für den 21. Mai in Skandinavien, Spanien, Mittel- und Osteuropa in Aussicht, gefolgt von Frankreich, Benelux und Polen vor den Olympischen Spielen im Juli. Ob Max jemals nach Deutschland kommt, steht weiter in den Sternen. Zu den ersten lokalen Serien von Max France zählt der Psychothriller "Black Lies", basierend auf der wahren Geschichte einer Betrügerin, die sich nach den Pariser Terroranschlägen von 2015 in eine Opfervereinigung hineingeschwindelt hatte. Man sei ganz besonders auf langlaufende Serien mit mehreren Staffeln aus, sagte die französische Max-Beauftragte Véra Peltekian – denn: Nur mit Miniserien sei die Zuschauerbindung auf Dauer schwierig.