Dass der euphorische Serienboom der letzten Jahre einer neuen Nüchternheit gewichen ist, zeigt sich nirgendwo deutlicher als auf der Berlinale. Deren Festivalsektion für Serien wurde komplett eingespart, der auf Branchenbesucher ausgerichtete Berlinale Series Market spürbar ausgedünnt. 2024 ist das Jahr, in dem der weltweite Produktionsrückgang bei den Festivals ankommt, welche nun aus einem stark geschrumpften Teich fischen müssen.
"Das Volumen des globalen TV-Markts hat sich signifikant verkleinert", gab Richard Broughton, Executive Director des britischen Marktforschers Ampere Analysis, zum Auftakt des Series Markets zu Protokoll. "Den Peak des Serien-Outputs und die größte Flut der Investitionen haben wir definitiv hinter uns." Laut Broughtons Zahlen sind 2023 weltweit zwischen 30 und 40 Prozent weniger neue Serien beauftragt worden als auf dem Höhepunkt 2020/21.
Dabei sank insbesondere das Auftragsvolumen von Streaming-Plattformen: Während laut Ampere im vierten Quartal 2020 noch 35 Prozent aller Aufträge von VoD-Diensten kamen, waren es im vierten Quartal 2023 lediglich 23 Prozent. Das lineare Fernsehen als wichtigster Auftraggeber legte, relativ gesehen, auf 77 Prozent zu. Fürs laufende Jahr, so Broughton, sei zumindest aus zwei Geldtöpfen eine gewisse Verbesserung zu erwarten: Die globalen TV-Werbeerlöse sollen demnach um 2,7 Prozent steigen, nachdem sie 2023 um 2,8 Prozent gesunken waren. Und die Zuwächse beim Werbevolumen auf VoD- und FAST-Plattformen sollen von 15,8 auf 20,5 Prozent zulegen. Dafür verlangsamt sich jedoch weiterhin das Wachstum der Abo-Erlöse im SVoD – von 15,8 Prozent im vorigen auf 8,8 Prozent in diesem Jahr.
"Wir sollten nicht länger dem Regenbogen nachjagen, sondern uns auf die neue Realität einstellen", kommentierte die israelische Produzentin Danna Stern, die an Serien-Erfolgen wie "Fauda" oder "Shtisel" beteiligt war und sich inzwischen mit eigener kleiner Produktionsfirma in Berlin niedergelassen hat. Bestimmte Trends der vergangenen Jahre wie etwa die Überbetonung von Young-Adult-Stoffen, um junge Streaming-Abonnenten zu gewinnen, könne man getrost abhaken, so Stern. Selbst die SVoD-Dienste hätten gemerkt, dass sie das Gros der TikTok-Generation einfach nicht mehr erreichen, und seien heute vielmehr auf breiteren Familien-Mainstream aus.
Ein "gestiegenes Bedürfnis nach Stoffen, die sowohl emotional als auch relevant" seien, machte Gaumont-Deutschlandchefin Sabine de Mardt aus – ein Trend, den sie selbst mit der Disney+-Serie "Deutsches Haus" befeuert hat. Wie sich die neue ökonomische Realität in noch mehr Sicherheitsdenken und Risikovermeidung niederschlägt, wusste indes Roy Ashton, Partner der US-Talentagentur Gersh, zu berichten. "Fire Country", die von Gersh an CBS vermittelte Dramaserie über einen Sträfling, der zwecks vorzeitiger Rehabilitierung zur freiwilligen Feuerwehr in Nordkalifornien geht, war die erfolgreichste neue TV-Serie der US-Saison 2022/23. Dass CBS daher jetzt zwei Spin-offs plant, kann Ashton nur bedingt erfreuen: "Schön für uns – aber noch schöner wäre es, wenn unsere Autoren mehr Chancen bekämen, neue Originalstoffe zu erzählen."
Hierzulande halten in quantitativer Hinsicht allenfalls die Öffentlich-Rechtlichen ihre Serienfahne unverändert hoch. So nutzte die ARD Degeto die Berlinale, um rund hundert jungen Kreativen und Nachwuchsproduzenten ihren Programmbedarf für die ARD-Mediathek zu erläutern. 20 neue Serien pro Jahr sollen dort landen, von denen die Degeto die Hälfte beisteuert. Man suche vor allem nach bislang im Portfolio unterrepräsentierten Genres wie Fantasy, Mystery, Horror, Action oder Spionage, so Redaktionsleiter Christoph Pellander. Ermuntert fühle man sich jüngst von der Vampir-Saga "Oderbruch", die bereits zehn Millionen Abrufe erzielt habe. Und das, obwohl ab der dritten Folge die FSK 16 gilt und zumindest vor 22 Uhr nur registrierte Nutzer weiterschauen können. Innerhalb einer Woche habe die ARD-Mediathek 400.000 zusätzliche registrierte Nutzungen erlebt. Kein Wunder, dass eine zweite "Oderbruch"-Staffel bereits in Entwicklung ist.
Obwohl man sich mit durchschnittlich 2,5 Millionen Nutzern und drei Millionen Stunden Sehdauer pro Tag mittlerweile als "großer Player im Streaming" betrachtet, gebe es nach wie vor riesigen Nachholbedarf bei den jungen Zielgruppen, so Jonas Schlatterbeck, Head of Content der ARD-Mediathek. Über 50 Prozent der Nutzung entfallen demnach auf die 50- bis 69-Jährigen. Vom kreativen Nachwuchs und den in der ARD bislang raren Genres erhofft man sich, Zielgruppen zu erreichen, die "noch nie einen Erstkontakt zur ARD" hatten. Ein Eroberungskampf, den sich die Öffentlich-Rechtlichen heute viel eher leisten als die kommerziellen Streamer.
Einmal mehr beweist sich übrigens, dass die Branchenentwicklung in wiederkehrenden Zyklen verläuft: Der globale Abwärtstrend der Serie geht mit einem klaren Auf für den Film einher. Einer der größten und lebhaftesten European Film Markets (EFM) seit langem sorgt in diesen Tagen mit zur Finanzierung anstehenden Kinoprojekten wie "Featherwood" mit Scarlett Johansson, "A Big Bold Beautiful Journey" mit Margot Robbie und Colin Farrell oder "The Dreadful" mit den "Game of Thrones"-Stars Sophie Turner und Kit Harrington für reichlich Buzz. Was den Markt antreibt? Da sowohl globale wie auch lokale Streaming-Plattformen den Umfang ihrer Eigenproduktionen gegenwärtig zurückschrauben, so AGC-Studios-CEO Stuart Ford gegenüber "Variety", werde ihr anhaltender Programmbedarf früher oder später zu einem Anstieg der SVoD-Lizenzgebühren für die Premiumprodukte Dritter führen.