Um der Vielfalt und Ausgewogenheit öffentlich-rechtlicher Nachrichten auf die Spur zu kommen, hatten Publizistik-Professor Marcus Maurer und sein Team an der Mainzer Gutenberg-Uni ganz schön viel Arbeit. Knapp 10.000 Nachrichtenbeiträge von April bis Juni 2023 unterzogen sie einer quantitativen Inhaltsanalyse. Dabei standen "Tagesschau" und "heute", deren jeweilige Online-Ableger, die regionalen TV-Nachrichten von BR, MDR, RBB und WDR sowie die 20-Uhr-Nachrichten des Deutschlandfunks im Zentrum des Interesses.
Für ihre Studie unter dem Titel "Fehlt da was?" – kofinanziert von der Stiftung Mercator und vorgestellt auf einer Veranstaltung der von WDR und Freudenberg-Stiftung getragenen Civis-Medienstiftung – hatten sich Maurer und Team freilich einen Kniff einfallen lassen, um oftmals schwammige Kriterien greifbarer zu machen. Sie untersuchten die Vielfalt der neun öffentlich-rechtlichen Nachrichtenangebote in Relation zu 34 reichweitenstarken Vergleichsmedien von "RTL aktuell" und "Sat.1 Nachrichten" über regionale und überregionale Tageszeitungen bis hin zu "Spiegel", "Focus", "Zeit", T-Online oder Web.de.
Die Ergebnisse klingen auf den ersten Blick kaum spektakulär: Sowohl die öffentlich-rechtlichen Nachrichten als auch die privaten Vergleichsmedien zeichnen sich laut Studie durch eine hohe Vielfalt von Themen und Akteuren aus. Weil der Streit ums Heizgesetz in den Untersuchungszeitraum fiel, befassten sich 31 Prozent der öffentlich-rechtlichen und 32 Prozent der privaten Nachrichtenbeiträge mit dem Themenfeld Wirtschaft/Arbeit/Energie, gefolgt von Politik/Demokratie mit 15 bzw. 17 Prozent und Sozialpolitik mit 15 bzw. 14 Prozent. Auffällig dabei: Öffentlich-Rechtliche und Private liegen in ihren Gewichtungen meist nahezu gleichauf.
Bei den dargestellten Akteuren fällt der Befund ähnlich aus: Die neun Formate von ARD, ZDF und Deutschlandfunk berichteten mit weitem Abstand am häufigsten (55 Prozent) über deutsche politische Akteure wie Politiker, Parteien oder die Bundesregierung. Unter den Interessenverbänden dominierten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (5 Prozent) vor Umwelt- und Klimaorganisationen (1,5 Prozent). Im Verhältnis zu ihrem Auftreten kamen Politiker als Sprecher in den Beiträgen proportional, Wirtschaftsakteure hingegen überproportional zu Wort. Vor allem internationale Akteure waren deutlich seltener Sprecher als nur erwähnte Akteure. In den 34 Vergleichsmedien waren laut Studie weitgehend dieselben Akteure und Sprecher präsent.
Auch in der Berichterstattung über Parteien entsprach die Verteilung bei den Öffentlich-Rechtlichen "fast exakt" derjenigen in den Vergleichsmedien: ARD und ZDF berichteten demnach vor allem über SPD (33 Prozent) und Grüne (29 Prozent), gefolgt von CDU/CSU (19 Prozent) und FDP (12 Prozent). Über AfD (5 Prozent) und Linkspartei (3 Prozent) wurde im Untersuchungszeitraum nicht viel berichtet. Geht es um die Bewertung der Parteien, sieht Studienleiter Maurer allerdings eine bedenkliche Tendenz: In acht der neun öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformate (einzige Ausnahme: heute.de) sowie in allen untersuchten Vergleichsmedien wurden sowohl Parteien links der Mitte als auch rechts der Mitte überwiegend negativ dargestellt. ARD, ZDF und Deutschlandfunk fielen hier laut Studie "im Vergleich insgesamt weder durch eine besonders negative noch durch eine besonders ausgewogene Berichterstattung" auf. "Natürlich haben Medien auch eine Kontrollfunktion", so Maurer. "Wenn sie ihre Berichterstattung aber auf Probleme beschränken, ohne über Lösungen zu berichten, kann das selbst zum Problem werden, weil dadurch das Vertrauen in die etablierten Parteien sinkt."
Zudem haben die Mainzer Forscher die Positionierung der Nachrichtenformate entlang grundlegender gesellschaftlicher Konfliktlinien untersucht. Demnach nahmen die Berichte in allen neun öffentlich-rechtlichen Formaten "insgesamt eher eine sozialstaatliche als eine marktliberale Perspektive" ein. Zugleich überwogen in sieben der neun Formate liberal-progressive die konservativen Perspektiven. Auch in dieser Hinsicht entsprach die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen weitgehend der der Vergleichsmedien. "Unsere Studie zeigt zwar, dass in den Nachrichtenformaten von ARD, ZDF und Deutschlandradio durchaus an der ein oder anderen Stelle Raum für eine Stärkung konservativer und marktliberaler Positionen wäre", folgert Maurer. "Insgesamt trifft die Behauptung, die Nachrichtenformate des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seien im Vergleich zu anderen Nachrichtenmedien besonders einseitig, aber nicht zu."
In einer ersten spontanen Diskussion der Studienergebnisse im Rahmen des Civis-Mediendialogs in Berlin zeigte sich eine Mischung aus Erleichterung und Ernüchterung. Letztere speiste sich vor allem aus der Frage, ob nicht die Anforderungen an den beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk höhere sein müssten als an private, gewinnorientierte Medien – auch und gerade, wenn es um die Perspektivenvielfalt geht. Unlängst hatte etwa der von der Rundfunkkommission der Länder eingesetzte Zukunftsrat genau dieses Kriterium – "Vielfalt statt Vielzahl" – für die künftige Bemessung der Auftragserfüllung empfohlen (DWDL.de berichtete). Es würde dann nicht mehr ausreichen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen zwar nicht einseitiger, aber eben auch nicht vielfältiger wären als der restliche Markt.