Es ist eine Binsenweisheit, dass technologischer Fortschritt kein Tempolimit kennt und sich vor unseren Augen immer weiter beschleunigt. Während Facebook noch viereinhalb Jahre brauchte, um auf hundert Millionen Nutzer zu kommen, schaffte TikTok das in neun Monaten – und wurde jüngst von ChatGPT unterboten, das die Marke nach gerade mal zwei Monaten erreichte. Was das konkret für Film- und Fernsehschaffende bedeutet, wurde dieses Jahr so richtig greifbar. Im März experimentierte das Medienmagazin DWDL.de mit einer von ChatGPT generierten Drehbuchszene für den "Bergdoktor", während die meisten Produzenten zwar heimlich Seminare besuchten, aber offiziell noch nicht über den Einsatz von KI reden wollten. Im Dezember sind RTL und UFA stolz darauf, einen "Unter uns"-Weihnachtsfilm zu zeigen, dessen Inhalte, Visualisierungen und Erzählstimme generativer künstlicher Intelligenz entspringen.
"Pragmatisch als Innovationstreiber einen Vesuchsballon zu starten", nennt "Unter uns"-Produzent Guido Reinhardt die Motivation dahinter. Für die Soap-Schmiede UFA Serial Drama ist es freilich nicht der erste KI-Einsatz. Während der damalige UFA-CEO Nico Hofmann noch im März in einem Interview sagte, KI werde "die Arbeit von kreativen Drehbuchschreibenden nicht ersetzen können", wies er im Juni erstmals öffentlich darauf hin, dass seine Soap-Kollegen sich KI-Unterstützung in die Writers' Rooms geholt haben. Nur eines von vielen Beispielen, wie die Branchenrealität im Lauf des Jahres von den teils faszinierenden, teils erschreckenden neuen Outsourcing-Möglichkeiten überholt wurde.
Von "Super-Tools, die Superkräfte verleihen" sprach Max Wiedemann, Chief Production & Business Development Officer der Leonine Studios, auf den Medientagen München – und fügte hinzu: "wenn User und Software als Tandem Mensch-Maschine zusammenarbeiten." Der Mensch müsse "die KI richtig prompten und korrigieren", damit sie einen "wirklichen Beitrag zur Geschwindigkeit und zur Qualität" in der Film- und Fernsehproduktion leiste. Vor allem größere Produktionshäuser wie Leonine und UFA sind inzwischen dabei, auf nahezu jeder Stufe der Wertschöpfungskette KI-Tools zu erproben: Impulse fürs Drehbuch von ChatGPT, eindrucksvolle virtuelle Bildwelten von Midjourney, echt klingende Stimmen von Eleven Labs.
Kein Wunder also, dass neben Geld und Rechten auch KI im Zentrum der mehrmonatigen Hollywood-Streiks von Autoren und Schauspielern stand, die für anhaltende Disruption der weltweiten Film-, TV- und Streaming-Branche sorgten. Die Writers' Guild of America (WGA) erreichte zwar, dass US-Studios in Zukunft keine KI-Tools nutzen dürfen, um damit einen Autoren-Credit aufzuweichen oder ein Autorenhonorar zu mindern. Allerdings darf KI auch weiterhin mit vorbestehendem Material trainiert werden – was die WGA laut ihren Ursprungsforderungen eigentlich verhindern wollte. Die Screen Actors Guild (SAG-AFTRA) streikte länger und setzte durch, dass Schauspieler vor Erstellung und Anwendung einer digitalen Kopie ihres Gesichts, Körpers oder ihrer Stimme "unmissverständlich" zustimmen und angemessen dafür honoriert werden müssen.
Vergleichbare Regelungen gibt es für den deutschen Markt noch nicht, auch weil die hiesigen Branchenverbände nicht annähernd so viel Macht besitzen wie ihre amerikanischen Pendants. In einem Gastbeitrag für die "FAZ" beklagte Ende November Künstlermanager Oliver Wirtz Brito, der Tim Mälzer, Jorge González, Jan Hofer oder Steffen Hallaschka vertritt, dass die Gesetzgeber in Deutschland und Europa sich nicht um diese Grauzone kümmerten: "Das führt beispielsweise bei uns Künstlermanagern dazu, dass wir seit einiger Zeit mithilfe unserer Anwälte mühsam versuchen, diese Regeln in einzelvertraglichen Vereinbarungen für unsere Künstler zu verankern. Dabei improvisieren wir, denn wir betreten juristisches Neuland, und viele unserer Vertragspartner bei TV-Sendern und Streaming-Plattformen sind vielleicht guten Willens, wissen aber auch noch nicht so recht, wie sie mit diesen Herausforderungen umgehen sollen."
Ein versöhnliches Beispiel hat passend zu Weihnachten abermals RTL im Programm: "Neue Geschichten vom Pumuckl", eine Produktion der DWDL.de-Bildschirmhelden NeueSuper, setzt KI ein, um die Stimme von "Pumuckl"-Synchronsprecher Maximilian Schafroth so zu modulieren, dass sie wie einst der legendäre Hans Clarin klingt. Die Erben des 2005 verstorbenen Schauspielers hatten dafür ihr Einverständnis erteilt. Geht es nicht nur um animierte Kobolde, sondern um Filmschaffende aus Fleisch und Blut, dürfte auch 2024 von rasanter Ausbreitung und zunehmender Debatte über KI geprägt sein.