Ernie, Bert, Elmo, Abby, Samson, Tiffy, Herr von Bödefeld, Schnecke Finchen und viele weitere - plus natürlich das Krümelmonster. Wenn es um die "Sesamstraße" geht, kommt einem nicht zwangsläufig zuerst eine möglicherweise fehlende Diversität des Casts in den Kopf. So war es auch bei den Mitgliedern der Redaktion der "Sesamstraße", als René Schaar, stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter im NDR, ihnen vor einiger Zeit den Vorschlag einer neuen Puppe gemacht hat, die inklusiv angelegt sein sollte. Doch aus anfänglicher Skepsis wurde schnell die Bereitschaft, tatsächlich eine solche Puppe umzusetzen, um sie in das beliebte Kinderformat zu holen. 

Und so ist die "Sesamstraßen"-Familie in diesem Jahr um eine neue Figur gewachsen: Elin. Das junge Mädchen sitzt im Rollstuhl, Diagnose: Infantile Cerebralparese. In der Folge, die am 2. Oktober im KiKA zu sehen gewesen ist, hatte Elin ihren ersten Auftritt. Zusammen mit Elmo, Abby, dem Wolf und der YouTuberin Laura Kampf hat sie eine Seifenkiste gebaut. Am 9. Oktober ist Elin ebenfalls in der Sendung zu sehen, dann in der Quiz-Show "Prima Klima" - dort tritt sie gegen das Krümelmonster an. 

Seit 1973 ist die "Sesamstraße" nun schon im deutschen Fernsehen zu sehen gewesen, das Format feiert in diesem Jahr also 50. Geburtstag. Und mit Elin zieht nun auch erstmals eine Figur mit einer sichtbaren Behinderung in die Sendung ein. Klar, zuvor ging es in verschiedenen Folgen auch um Behinderungen - aber eine solche Figur, durch die sich Kinder mit einer Behinderung repräsentiert fühlen würden, gab es bislang nie. Daher freute sich bei der Vorstellung vor einigen Monaten auch Stefan Kastenmüller, General Manager Sesame Workshop Europe, "auf das gemeinsame Lachen und Lernen mit Elin in der Sesamstraße". Das Lachen und Lernen wird Kastenmüller allerdings nicht mehr in seiner bisherigen Funktion begleiten. Nach DWDL.de-Informationen ist Kastenmüller raus beim Unternehmen, das weltweit für die "Sesamstraße" verantwortlich zeichnet. Auf Anfrage von DWDL.de reagiert Kastenmüller nicht. Sesame Workshop Europe will sich nicht äußern - auch nicht zu der Frage, wer eigentlich aktuell General Manager für Europa ist. 

Eigene Erfahrungen als Antrieb

René Schaar © Norbert Scheffler René Schaar
In Deutschland wird das Format vom NDR in Kooperation mit Sesame Workshop produziert. "Ich habe mich im Fernsehen sehr selten repräsentiert und gesehen gefühlt", sagt René Schaar im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de auf die Frage, wie er auf die Idee zur Figur Elin gekommen ist. "Ich hatte Lust mit der Redaktion zu arbeiten und hätte es nicht gewagt zu träumen, in diese Welt eintauchen und mitspielen zu dürfen." Im Anschluss an seinen ersten Vorstoß bekam Schaar von der Redaktion nach einigen Wochen die Drehbücher zugesandt -  und half bei der Feinjustierung.

Unser Rollstuhl ist ein Kompromiss aus Authentizität und Bespielbarkeit.
René Schaar, stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter des NDR


Die Behinderung von Elin ist zwar sichtbar, soll aber nicht zu sehr im Vordergrund stehen. "Der wichtigste Aspekt war und ist die Beiläufigkeit, die Alltäglichkeit", sagt Schaar. Elin wird also, wie alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner der "Sesamstraße", an allen Aktivitäten teilnehmen. Und sie hat viele Interessen: Elin mag Technik und interessiert sich für Naturwissenschaften, außerdem bastelt sie gern. Im Kopf ist sie manchmal so schnell, dass sie sich verhaspelt. 

Um der Idee von Inklusion Rechnung zu tragen, sei es zudem wichtig gewesen, dass Elin fester Bestandteil des Formats wird - und nicht nur beispielsweise einen kurzen Auftritt hat. Und es sieht ganz danach aus, als sei Elin gekommen, um zu bleiben. In der Jubiläumsstaffel bleibt es zwar bei zwei Folgen. Aber die Planungen für die nächste Staffel laufen bereits. Ende September hat dazu auch ein Workshop beim NDR stattgefunden, an dem alle Gewerke teilgenommen und sich ausgetauscht haben. Auch Menschen mit der Diagnose Infantile Cerebralparese waren Teil des Treffens. So will man sicherstellen, dass die Figur Elin authentisch bleibt.

Kinder sollen sich in Elin wiedererkennen

Das Echo, das der NDR rund um die Figur Elin schon jetzt ausgelöst hat, ist enorm. Als man im April dieses Jahres die neue Puppe erstmals ankündigte, war man damit in allen großen Medien präsent. Der "Spiegel" führte ein Interview mit René Schaar, die "Zeit" war beim Drehbeginn der neuen Staffel dabei. Als die Puppe im März vorgestellt wurde, kam auch NDR-Programmdirektor Frank Beckmann und erklärte, die Puppenwelt werde nun etwas inklusiver. Außerdem gab es nicht nur Feedback von Menschen aus der Branche, sondern auch von Personen, die ebenfalls behindert sind - und die darauf hinwiesen, dass die Proportionen des Rollstuhls nicht ganz korrekt seien. 

"Unser Rollstuhl ist ein Kompromiss aus Authentizität und Bespielbarkeit. Es ist ein echter Kinderrollstuhl, den wir umgearbeitet haben, denn unten drunter muss ja noch die Puppenspielerin sitzen", sagt René Schaar gegenüber DWDL.de. Gespielt wird die Puppe von Iris Schleuss und der Handspielerin Charlie Kaiser. Schaar war während des Drehs auch fünf Tage lang am Set, um zu unterstützen. So haben man unter anderem geklärt, wie sich Elin nach vorne beugt oder ihr noch am Tag des Drehs eine Bauchtasche besorgt, weil Menschen, die im Rollstuhl sitzen, so etwas oft haben, um Dinge zu transportieren. Authentizität ist für die Macherinnen und Macher ein wichtiger Punkt. "Es muss unser Ziel sein, dass sich Kinder, die einen Rollstuhl nutzen, in der Figur wiedererkennen", sagt Schaar. Den Rollstuhl wolle man dabei nicht als etwas schweres darstellen, das behindere. Sondern als etwas "das Teilhabe ermöglicht". 

Sesamstraße Elin © NDR/Thorsten Jander Gespielt wird Elin von Iris Schleuss (rechts) und der Handspielerin Charlie Kaiser

Die Resonanz auf die neue Figur in der "Sesamstraße" war also groß. "Mehr noch als Presseanfragen haben mich Nachrichten von Personen gefreut, die bei anderen Medienhäusern arbeiten." Wenn diese Personen Elin zum Anlass nehmen würden, um über ihre eigenen Produkte und Prozesse nachzudenken, sei schon viel erreicht. "Das hat eine Strahlkraft, die weit über das hinausgeht, was eine Person alleine schaffen kann. Das dient der gesamten Gesellschaft und Community."

Elin steht auch für ein größeres Ziel

Und trotz allem will sich René Schaar nun vorerst auf seinen eigentlich Job als stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter im NDR konzentrieren. Dabei beschäftigt er sich mit Themen wie Pflege von Angehörigen, Elternzeit und Elterngeld, aber auch mit Fällen von Sexismus und Rassismus, sofern sie vorkommen. Hinzu kommen Antidiskriminierungsworkshops. Viel Arbeit für einen Mann, der nur auf einer halben Stelle arbeitet - und zuletzt maßgeblich an der Entwicklung einer neuen Figur in der "Sesamstraße" beteiligt war. Deshalb will sich Schaar nun wieder auf seinen eigentlichen Job fokussieren und nicht weiter neue On-Air-Figuren entwickeln. Für Fragen rund um das Thema Inklusion oder auch das Sensitivity Reading von Texten steht Schaar seinen Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen aber auch weiterhin zur Verfügung. "Teilweise ist die Unsicherheit noch groß in Bezug auf Diversitätsmerkmale, da bin ich mit meinem Know-How gern Ansprechperson."

Menschen mit Behinderung fühlen sich von der Gesellschaft immer wieder vergessen oder bewusst ignoriert, weil sie oft vor Hindernissen stehen, die für Menschen ohne Behinderung keine Probleme darstellen. Und auch wenn sich die "Sesamstraße" in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder gewandelt hat, um frisch und attraktiv für die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer zu bleiben - hier war auch sie nicht auf der Höhe der Zeit. Um Veränderungen in der Gesellschaft voranzutreiben, braucht es aber immer auch Sichtbarkeit, die dann in der Folge vielleicht dazu führt, dass behinderte Menschen eben nicht mehr vergessen oder ignoriert werden. "Auf diesem Weg hilft uns Elin", sagt René Schaar.