Zwei Tage im Frühsommer dieses Jahres werden Johannes Züll nicht so schnell aus dem Kopf gehen. Dafür bleiben sie einfach mit zu tief sitzenden Schockmomenten verbunden. Zunächst riegelte Mitte Mai ein Sondereinsatzkommando der Hamburger Polizei sein Studiogelände ab – ohne dass es sich freilich um Dreharbeiten für einen der zahlreichen Krimis aus der Unternehmensgruppe handelte. "Unklare Bedrohungslage", teilte die Polizei mit und evakuierte Teile der Belegschaft, nachdem per E-Mail eine Drohung eingegangen war. Nach umfangreicher Durchsuchung kam die Entwarnung: Fehlalarm.
Beim zweiten Vorfall Ende Juni ging es zwar nicht um die Sicherheit. Dennoch war der Schreck groß, als Sky Deutschland das Ende seiner fiktionalen Eigenproduktionen verkündete. Besonders für Studio Hamburg: Dessen Tochter Real Film Berlin stand weniger als vier Wochen vor dem geplanten Drehstart zur Sky-Medical-Serie "KraNK"; 250 eigens dafür eingestellte Mitarbeiter fieberten auf die erste Klappe hin. Muss ein Projekt in diesem Stadium abgebrochen werden, wird es in der Regel teuer und unschön.
Bis zur Erleichterung dauerte es in diesem Fall länger als nur ein paar Stunden. Dem Vernehmen nach waren die Konditionen zwischen drehbereitem Auftragnehmer und zurückruderndem Auftraggeber zunächst strittig, ehe die Real-Film-Geschäftsführung um Michael Lehmann und Henning Kamm Anfang August ZDFneo als neuen Partner für den deutschsprachigen Raum präsentieren konnte. Mit rund vier Wochen Verspätung haben die Dreharbeiten in Berlin in diesen Tagen begonnen, und der harte Alltag in der Notaufnahme der Neuköllner Klinik soll bis Mitte Dezember verfilmt werden.
Das Extrembeispiel "KraNK" wirft ein Schlaglicht auf eine insgesamt kritische Entwicklung, die Züll für "mittelfristig bedrohlich" hält. Denn: "Wir sehen, dass es öffentlich-rechtlichen wie privaten Sendern nicht gut geht, Pay-TV sich neu erfinden muss und die Streamer ihre Programminvestitionen zurückfahren", so der Studio-Hamburg-Chef gegenüber DWDL.de. "Wenn es aber allen Kunden der Branche nicht richtig gut geht, dann muss und wird sich das auf die vorgelagerten Bereiche, also auf die Produktionsunternehmen und die technischen Dienstleister, auswirken."
Auf beiden genannten Feldern ist Studio Hamburg aktiv, erwirtschaftet gut zwei Drittel seiner Erlöse mit Produktion und Distribution, ein knappes Drittel mit Studios und Technik. Die Messlatte lag zuletzt hoch, weil die NDR-Tochter im Geschäftsjahr 2022 ihre konsolidierte Gesamtleistung auf rund 330 Millionen Euro und den Umsatz auf rund 320 Millionen Euro gesteigert hatte – ein Wachstum um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr und neuer Firmenrekord. Mit Blick darauf überlegt Züll nicht nur fürs eigene Haus: "Vielleicht werden wir feststellen, dass 2022 der Peak für die Branche war, teilweise auch mit all seinen Überhitzungen, nicht zuletzt da es spätestens ab dem zweiten Halbjahr nicht ausreichende bzw. nicht bezahlbare Ressourcen für zu viele Projekte gab."
Oft genug funktioniert zudem die gruppeninterne Wertschöpfungskette, wenn die eigene Vertriebstochter OneGate Media erfolgreich Auslandsrechte versilbert. Dank jüngster Abschlüsse für den von Polyphon produzierten "Usedom-Krimi" – international als "Baltic Crimes" vermarktet – ist die ARD-Reihe mit bislang 19 Filmen nun in 95 Ländern zu sehen, darunter in den USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Spanien. Der enorme Wert einer langlaufenden TV-Reihe lässt sich hieran gut ablesen; eine bloße Handvoll 90-Minüter wäre bei Käufern kaum so gefragt. Gleichzeitig macht OneGate Fortschritte auf dem Weg, mehr Programmware anderer Produzenten zu vertreiben – ein erklärtes Ziel bei der Umfirmierung von Studio Hamburg Enterprises im vorigen Herbst. So gewann man etwa die Mandate der ARD-Serien "Asbest" (Pantaleon Films) und "Juni" (Viafilm) sowie der Prime-Video-Serie "German Crime Story: Gefesselt" (Neue Bioskop Television).
Allerdings weiß man bei dem öffentlich-rechtlichen Tochterkonzern aus Erfahrung, dass eine wirtschaftliche Trendwende oft zuerst im Geschäftsfeld Atelier & Technik zu spüren ist. Während die Studios in Berlin und Hamburg momentan noch gut ausgelastet sind, zeigt sich bei Studio Hamburg Postproduction und Studio Hamburg Synchron dem Vernehmen nach eine deutliche Beruhigung gegenüber dem Vorjahr. Züll spricht in diesem Zusammenhang von dem möglichen Szenario, dass "wir es nicht schaffen werden, dieses hohe Niveau von 2022 nochmals zu steigern. Stand heute gehen wir sogar davon aus, dass wir unter 2022 landen werden." Parallel sei mit einem weiteren Ergebnisrückgang zu rechnen, da die Margen unter Druck stünden.
Züll findet deutliche Worte, wenn er Sender und Streamer dafür kritisiert: Eine Weitergabe der extremen Kostensteigerungen an die Auftraggeber sei kaum machbar, sie würde schlicht nicht akzeptiert. Nach 2022 und 2023 dürfte 2024 für Studio Hamburg demnach das dritte Jahr in Folge mit einem Margenrückgang werden. "Bei einer Industrie, die im Fiktionalen durchschnittlich eine Vorsteuer-Umsatzrendite von drei bis fünf Prozent erzielt, nähert man sich so schnell der Verlustzone", sagt Züll. Verschärft werde dies noch durch höhere Finanzierungskosten infolge des stark steigenden Zinsniveaus.
Und dann stößt dem Studio-Hamburg-Kapitän auch noch eine andere Entwicklung bei privaten wie öffentlich-rechtlichen Sendern auf. Viel werde experimentiert, um jüngere Zielgruppen längerfristig zu binden. Die Gewichtung verschiebe sich immer mehr vom linearen Programm zu den Mediatheken und Plattformen. "Teilweise bin ich der Meinung", so Züll, "dass hier Sender Gefahr laufen, Potenziale, die das lineare Fernsehen weiterhin bietet, ungenutzt liegen zu lassen." Durchaus verständlich, dass man auf solche Gedanken kommt, wenn man so viel solides Volumengeschäft mit dem treuen älteren TV-Publikum macht.