Ein DWDL-Interview aus dem August 2022 hat in den vergangenen Monaten einiges ins Rollen gebracht. Martin Hommel, ein Musikjournalist aus Leipzig, las das Gespräch von DWDL-Redakteur Alexander Krei mit Mira Seidel, der Programmchefin des SWR-Jugendsenders Das Ding. Die Radiomacherin stellte darin klar, dass man mit musikalischer Vielfalt niemanden richtig zufriedenstelle und kündigte einen Programmrelaunch an. "Das hat mich wirklich betroffen gemacht hat", sagt Hommel – und genau dieses DWDL-Interview war auch der Anstoß für eine Aktion, die in den vergangenen Wochen Fahrt aufnahm. "Wo ist hier der Krach?" fragt Hommel dort zusammen mit Melanie Gollin, einer Musikjournalistin aus Berlin.
Im Kern kritisiert die Aktion der derzeitige Ausgestaltung von zahlreichen öffentlich-rechtlichen Programmen. Auf der Homepage von "Wo ist hier der Krach?" heißt es etwa: "Wir fühlen uns und die Vielfalt der Musiklandschaft im Angebot der deutschen ÖR-Radios selten bis gar nicht abgebildet. Wir vermissen die nerdigen Musikradios und fragen uns, warum öffentlich-rechtliche Popkultur-Radios in Deutschland so glattgezogen werden? Eigentlich schreit die einzigartige Position des ÖRR, einigermaßen werbe- und quotenunabhängig produzieren zu können, doch geradezu nach spannendem Programm und Musik abseits jeglichem Mainstreams."
Vielmehr müsse es darum gehen, sagt Gollin im Gespräch mit DWDL.de, die Gesellschaft zu informieren und abzubilden. "Wir sind lange Zeit für Musikredaktionen tätig und kennen viele Personen, die bei öffentlich-rechtlichen Radiosendern arbeiten. Auch Freunde und Freundinnen dort sind oft unzufrieden, wenn es um Forderungen geht, dass Programme noch durchhörbarer werden und noch mehr Hits gespielt werden müssen", erklärt die Musikjournalistin, wissend, dass Radiostationen meist argumentieren, dass genau diese Musikmischung in Marktforschungen besonders gut abschneidet. Nur: Wie diese durchgeführt werden, hält Gollin für "undurchsichtig". Sie stört sich zudem am "Bild der so sehr fragilen Hörerschaft. Das Denken, dass die Leute keine Musik abseits des Mainstreams vertragen. Da rede ich nicht von Slayer um neun Uhr morgens, sondern nur von etwas anderem als einem seichten Vier-Vierteltakt, der auch Fahrstuhlmusik sein könnte."
Was wollen die Menschen wirklich im Radio hören? Radiosender agieren seit Jahren sehr vorsichtig wenn es um Musik gibt. Musik ist weiterhin der Einschaltgrund Nummer eins im Radio, "falsche Musik" aber auch ein veritabler Abschaltimpuls. Doch mit der Angst vor dem Abschalten und damit sinkenden Quoten bei MA-Ausweisungen, wie sie am Mittwoch dieser Woche wieder anstehen, braucht man Gollin nicht kommen. "Öffentlich-rechtliches Radio soll interessantes Programm senden und hat keinerlei Verpflichtung, die höchsten Quoten zu holen", sagt sie. "Wo ist hier der Krach?" kritisiert daher auch ausschließlich die ARD-Radio-Programme.
"Wir verstehen, dass private Radiosender ihr Programm daran ausrichten müssen, genug Geld zu verdienen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss das aber nicht. Er muss die komplette Gesellschaft abbilden und das heißt eben auch die Menschen, die mit Mainstream-Musik nichts anfangen können", betont Hommel. Nun gibt es durchaus ARD-Radios, die Musik abseits des Mainstreams spielen. Radioeins vom RBB etwa, Bremen Next im Norden oder Puls vom Bayerischen Rundfunk. "Gute Ansätze" seien das nach Ansicht der Journalistin. Den Sender Puls bezeichnete sie gar als "fantastisch", nur: "Puls ist ein lokales Programm und mich in Berlin interessiert eben nicht, was in Bayern passiert. Und auch Puls hat ein enges Soundkorsett und bildet tagsüber letztlich nur eine bestimmte Szene ab."
Das fordert "Wo ist hier der Krach?"
Konkret fordert "Wo ist hier der Krach?" im Tagesprogramm öffentlich-rechtlicher Sender, also in der Zeit zwischen sechs und 20 Uhr, Platz für Newcomerinnen und Newcomer, eine durch Diversität bestechende Musikauswahl, eine Foussierung vor allem auf Spartenmusikstile wie Indie, Punk, Jazz, Funk, Techno, Metal, Pop, Hip-Hop, R’n’B und deren Subgenre, eine lockere Ansprechhaltung und den Verzicht auf Beiträge zu Politiik und Wirtschaft. Eine Live-Session pro Tag wäre darüber hinaus das Ziel.
"Wir müssen auch gar nicht nur von klassischen Sendern sprechen, auch reine Musikmediatheken aus öffentlich-rechtlicher Hand müssen denkbar sein – analog zur ARD Audiothek", erklärt Gollin. Feedback haben die beiden in den zurückliegenden Wochen "sehr viel" bekommen, wie sie im Gespräch mit DWDL.de berichten. "Viele wollen eigentlich gern klassisches Radio hören, finden aber kein Programm, das sie ordentlich bedient", sagt Gollin. "Der Wunsch nach Veränderung und mehr Mut im ÖR-Radio ist da, nicht nur bei uns. Wir merken aber, und das setzt uns auch ein bisschen unter Druck: Die Erwartungshaltung an uns steigt", ergänzt Hommel. Denn immer wieder tauche auch die Frage auf, was die beiden denn nun eigentlich schon erreicht hätten.
"Derzeit denken wir darüber nach, wie wir das Projekt erweitern können, in welche Richtungen wir noch recherchieren können. Aktuell basieren unsere Forderungen auf dem, was wir im Ausland sehen. Logisch wäre, jetzt hier vor Ort mit den Verantwortlichen zu reden", sagt Gollin. "Wo ist hier der Krach?" beschreibt Hommel weiterhin als "journalistisches Projekt", für das die beiden Fakten zusammengetragen und Interviews mit Verantwortlichen internationaler Radiostationen geführt haben. "Doch wir sehen, dass wir vermehrt auch als Kämpfer*innen für diese Sache wahrgenommen werden. Das ginge aber über die journalistische Arbeit hinaus. Um die Frage nach dem ‘Wie weiter?’ zu beantworten, brauchen wir ein bisschen Zeit. Fest steht: Wir haben etwas losgetreten, das wir weiterdenken wollen", erklärt Hommel.
Dabei wollen sie auch explizit nicht in das derzeit im Trend zu sein scheinende Ö-R-Bashing einsteigen. "Wir wollen festhalten: Wir lieben den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ich bezahle gerne dafür, weil öffentlich-rechtlicher Rundfunk eine richtig geile Sache ist. Ziel muss es aber sein, dass er wieder attraktiver wird und mehr den Lebensrealitäten der Menschen entspricht", sagt Gollin.
Was bleibt, scheint eine Kluft zu sein. Ein Missverständnis derer, die Radio inzwischen nur noch als Nebenbeimedium wahrnehmen. Denen es ausreicht, wenn sich in ihren Alltag ein möglich angenehmer Klangteppich aus Melodischem einfügt. Die unbekannte Töne und zu viel Wort stört. Und denen, die bewusst Radio hören und dessen Inhalte entdecken wollen. Und vielleicht in der Unterzahl sind.