Ganz so schlimm wie von manchen Marktbeobachtern befürchtet ist es dann doch nicht gekommen. Wäre Netflix nach dem massiven Kursabsturz vor gut einem Jahr in der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit versunken, dann hätten die streikenden Hollywood-Autoren wohl kaum einen ihrer größten Streikposten in den ersten Maitagen am Sunset Boulevard, direkt vor der Kreativzentrale des Streaming-Pioniers, errichtet. Die Wahl des Ortes, um Kampfgesänge wie "Hey hey, ho ho, corporate greed has got to go" anzustimmen und Plakate mit Aufschriften wie "I like your offer as much as you like an angry female lead" hochzuhalten, ist kein Zufall. Schließlich hat Netflix einst jene Business-Gepflogenheiten eingeführt, die die Writers Guild heute bei allen Studios und Streamern kritisiert: kürzere Serienstaffeln, kleinere Writers' Rooms, kaum Erfolgsbeteiligungen. Die Geister, die Reed Hastings rief, spuken längst flächendeckend.
Als dessen CEO-Nachfolgerduo Ted Sarandos und Greg Peters Mitte April die jüngsten Quartalszahlen verkündete, fielen diese bemerkenswert unspektakulär aus. Die Zahl von 232,5 Millionen Abonnenten weltweit – ein Plus von 4,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr – lag ebenso innerhalb der Erwartungen wie die 1,3 Milliarden Dollar Gewinn bei 8,2 Milliarden Dollar Umsatz. Das post-pandemische 'new normal' scheint sich demnach bei jährlichen Wachstumsraten um die fünf Prozent einzupendeln. Seinen freien Cashflow verdreifachte Netflix auf 2,1 Milliarden Dollar, weil die Programminvestitionen im laufenden Jahr niedriger liegen als ursprünglich vorgesehen. Sarandos und Peters, die sich 2022 trotz Einbruch über stolze Saläre von 50 bzw. 28 Millionen Dollar freuen durften, rechnen mit konstanten Zuwachsraten im zweiten Quartal.
Spätestens danach könnte es wieder spannender werden, in positiver wie in negativer Hinsicht. Denn Netflix ist auf ungewohnten Pfaden unterwegs: Obwohl Werbefinanzierung als zusätzliche Erlösquelle über viele Jahre kategorisch ausgeschlossen wurde, steht inzwischen ein billigeres Abo (4,99 Euro in Deutschland, 6,99 Dollar in den USA) zur Verfügung, bei dem man vier bis fünf Minuten an Werbespots pro Stunde erdulden muss. Und obwohl die Plattform viele Jahre großzügig dazu animierte, das Passwort mit Freunden zu teilen, soll genau das jetzt konsequent unterbunden werden. Beides ist als Reaktion auf den Einbruch des vergangenen Jahres zu verstehen – mit noch ungewissem Ausgang. Der angekündigte "Crackdown" gegen das weit verbreitete Account-Sharing ist erst seit wenigen Wochen in vollem Gange. Wer Mitnutzer außerhalb des eigenen Haushalts legalisieren will, muss nun zuzahlen. Alternativ bekommt der bisher nicht zahlende Mitnutzer ein günstiges Einstiegsangebot.
Was bei all den neuen Herausforderungen leicht in Vergessenheit gerät: Relativ zu seinen Wettbewerbern agiert Netflix noch immer aus einer Position der Stärke. Knapp acht Prozent des monatlichen Bewegtbild-Konsums in den USA gehen laut Nielsen aufs Konto von Netflix – das ist mehr Bildschirmzeit als für Hulu, Disney+ und HBO Max zusammen. In einer durchschnittlichen Woche ziert das rote N sieben bis acht der zehn meistgesehenen Streaming-Serien. Ein Programmsegment, in dem Netflix jedoch auffallend Marktanteile verloren hat, sind Lizenzserien, die zuvor im klassischen TV zu Hits geworden sind. Nachdem man hier 2021 noch dicht an der 100-Prozent-Marke klebte, sind es jetzt je nach Woche zwischen 50 und 75 Prozent Marktanteil. Der Grund: Top-Performer wie "Friends", "The Office" oder "Criminal Minds" wurden von ihren jeweiligen Studios bei Netflix abgezogen und laufen mittlerweile auf deren eigenen Plattformen.
Während der Erfolg also zusehends mit den eigenen Originals steht und fällt, hat Netflix bei deren Erscheinungsfrequenz zum Teil alte Binge-Mantras über Bord geworfen. Die begehrtesten Serien wie "Stranger Things", "Ozark" oder "Haus des Geldes" werden inzwischen nicht mehr auf einen Schlag, sondern mit zwei Drops pro Staffel veröffentlicht. Was als pandemiebedingtes Experiment begann, weil Dreharbeiten sich in vielen Fällen erheblich verzögerten, ist ohne viel Aufhebens zur Dauereinrichtung geworden. Die Zahlen sprechen eben für sich: Nahezu alle Titel mit geteilten Staffeln konnten sich deutlich länger in den Netflix-eigenen globalen Top 10 halten als eine durchschnittliche Serie mit einmaligem Binge-Release. Nach Berechnungen von Bloomberg ist die Anzahl der Titel, die vier Wochen oder länger in den Top 10 bleiben, zwischen 2021 und 2023 um 22 Prozent gestiegen. Gleichzeitig sank die Zahl der Serien, die nach einer Woche schon wieder aus den Top 10 verschwinden, um 16 Prozent. Ein Trend in Richtung Nachhaltigkeit, der in konjunkturell herausfordernden Zeiten mehr als gelegen kommt.
Ein anderer Trend, den die Netflix-Bosse spätestens seit "Squid Game" gern nach vorn stellten, hat sich hingegen nicht in gleichem Maße fortgesetzt: die scheinbar unbegrenzte Popularität nicht-englischsprachiger Serien auf der Plattform. Anderthalb Jahre nach dem Start seiner ersten Staffel hält der koreanische Überraschungserfolg noch immer den Rekord als meistgestreamte Serie aller Zeiten mit über einer Milliarde Stunden Nutzungszeit. Kein "Wednesday", kein "Dahmer", kein "Stranger Things 4" konnte das erreichen, erst recht aber keine andere Serie von außerhalb der USA. Laut Bloomberg ist die globale Nutzungszeit englischsprachiger Serien auf Netflix zwischen 2021 und 2023 um 42 Prozent gestiegen, während Serien in anderen Sprachen 16 Prozent verloren haben. Solange in Hollywood gestreikt wird, sollten die internationalen Netflix-Filialen also ordentlich Gas geben. Es könnte eine historische Chance sein.