Die untrüglichsten Anzeichen von gesellschaflicher Disruption bekamen die Gäste der Series Mania ausnahmsweise nicht auf der Leinwand zu sehen. Europas größtes Serienfestival wurde in den vergangenen Tagen von den landesweiten Ausschreitungen gegen Frankreichs Rentenreform überschattet. Zwischen Kinos und Kongresszentrum kam es im nordfranzösischen Lille zu gewalttätigen Protesten mit Brandstiftung und mindestens einem Versuch, den roten Teppich einer Serienpremiere zu stürmen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Infolge des Eisenbahnerstreiks gestaltete sich zudem die Heimreise am Donnerstag für etliche Teilnehmer schwierig.
Irgendwie passte die angespannte Atmosphäre vor der Tür ganz gut zu den Herausforderungen der Branche, die drinnen im Grand Palais diskutiert wurden. Seitdem das scheinbar unbegrenzte Wachstum im Streaming- und damit auch im Serienmarkt einem neuen Realismus des Strebens nach Profitabilität weichen musste, ist es spürbar härter geworden, ambitionierte Projekte zu finanzieren. Auch wenn sich das in den jüngsten Zahlen der European Audiovisual Observatory (EAO) nur indirekt niederschlägt: Mit 739 in Europa produzierten Serienstaffeln wurde demnach 2021 ein neuer Höchstwert erreicht. Allerdings schwächt sich das Wachstum deutlich ab – von einst zweistelligen Raten auf 8,7 Prozent in 2020 auf 5,4 Prozent in 2021.
Was aus den bei der Series Mania vorgestellten EAO-Zahlen besonders hervorsticht, ist das vehemente Klammern der Fiction-Industrie an vorbestehende Marken, die mit Spin-offs, Sequels, Prequels oder Reboots weiter ausgepresst werden. 28 Prozent der europäischen Serienproduktionen basieren demnach auf solchen IPs, während es im US-Markt gar 42 Prozent aller Serien sind – ein Trend, der in Lille bei nahezu jeder Präsentation Erwähnung fand und wechselweise unter Schlagworten wie "Franchisation of TV" oder "More of the same" erörtert wurde. Von einer "IP-Obsession" der amerikanischen Serienmacher sprach etwa Avril Blondelot vom französischen Medienforscher Glance Médiamétrie, die anhand der bislang bekannten 2023er Beauftragungen eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahresstand aufzeigte. Prominente Beispiele sind "The Walking Dead" mit drei neuen Spin-offs, "Dexter" mit zweien oder "Yellowstone" mit der Mittelfrist-Strategie, jedes Jahr mindestens ein weiteres Spin-off hervorzubringen.
In einer nicht zuletzt von Inflation geprägten Marktlage, in der die meisten Anbieter gezwungen sind, tendenziell mit weniger Produktionen mehr Impact zu erzielen, kann die fortschreitende Franchise-Orientierung kaum verwundern. "Es geht weniger darum, wer am meisten investiert, sondern darum, wer am intelligentesten investiert, um tatsächlich Publikum zu binden", gab Marco Nobili, International General Manager der Streaming-Plattform Paramount+, zu bedenken. Seine strategische Antwort darauf: "big mass franchises" mit dem Zeug zu echter Popularität. Neben "Yellowstone" und "Dexter" setzt Paramount in diesem Zuge auch auf seine altbekannte Konzernmarke "NCIS", deren erstes nicht-amerikanisches Spin-off, "NCIS: Sydney", gerade unter Leitung von Showrunner Shane Brennan gedreht wird. Der Australier dirigierte zuvor sieben Jahre lang "NCIS: Los Angeles". Der Ausbau von Franchises müsse nicht auf Kosten der Originalität gehen, so Nobili. "Macht man ein Sequel, sinkt die Reichweite eher, aber ein Prequel kann die Markenwelt aufpeppen, weil man es auch schauen kann, wenn man das Original nicht kennt. Das zu schaffen, erfordert also Originalität."
Das Bemühen, neue Stoffe gleich so zu entwickeln, dass sie möglichst bald franchise-fähig werden, ist derweil eine weitere Disziplin, die gerade bei Streamern immer beliebter zu werden scheint. So sprach James Farrell, Head of Local Originals bei Amazon Studios, in Lille über die Hoffnungen hinter "Citadel", der groß angelegten Spionagethriller-Serie der Marvel-erprobten Brüder Anthony und Joe Russo, die am 28. April mit Priyanka Chopra Jonas und Richard Madden in den Hauptrollen auf Prime Video startet. Dem US-Flaggschiff folgen zwei lokale Spin-off-Serien in Italien und Indien, die bereits in Produktion sind, und Andeutungen zufolge möglicherweise bald noch weitere.
Laut Farrell handelt es sich dabei nicht um Remakes, sondern um "inhaltlich miteinander vernetzte Teile eines großen Ganzen, wie man es auch vom Marvel-Universum kennt". Dass insgesamt mehr Kostenbewusstsein Einzug hält, bestätigte auch Farrell mit seinem Bekenntnis, "gut und verantwortungsbewusst haushalten" zu wollen. "Wenn man einen tollen Film mit 20 statt 30 Drehorten machen kann, um ein bisschen Geld zu sparen, dann sollten wir das tun", so der Amazon-Manager. "Wenn wir die Anzahl der Episoden einer Serie von acht auf sechs reduzieren und trotzdem die Geschichte erzählen können, die wir erzählen wollen, und dabei etwas Geld sparen, dann sollten wir das tun."
Aus Sicht von Produzenten und Programmvertrieben bekräftigen die knapperen Kassen der Plattformen wiederum den erwünschten Trend weg vom Total Buyout. "Wir merken bereits deutlich, dass die Streamer immer öfter Projekte nur noch für einen oder ein paar ausgewählte lokale Märkte beauftragen", gab etwa Cathy Payne, CEO von Banijay Rights, zu Protokoll. Damit bleibe die Kategorie "rest of the world" im Spiel und Produzenten seien zunehmend auf der Suche nach Koproduktions- und Vertriebspartnern. "Schon aus eigenem wirtschaftlichen Interesse haben wir stets versucht, alternative Finanzierungsmodelle anzubieten", bekräftigte Beta-Film-Geschäftsführer Moritz von Kruedener. Diese seien jetzt gefragter denn je.
Wenn dabei die Zahl der Partner zunehme, sei es wichtig, dass deren finanzielle Interessen nicht die kreative Vision einer Serie überlagerten. Beta verstehe sich hier im Zweifelsfall als Puffer. Ein aktuelles Megaprojekt aus seinem eigenen Haus sieht von Kruedener nach eigenem Bekunden "nicht als ideales Modell": "Der Schwarm" habe eigentlich "viel zu viele Partner", auch wenn Showrunner Frank Doelger die verschiedenen Interessen gut ausbalanciert habe. Dennoch: "Grundsätzlich ist mir lieber, wenn Beta drei andere Koproduktionspartner ersetzen kann und weniger Stimmen am Tisch sitzen. Das ist das bessere Rezept, um starke Geschichten zu erzählen."