
Marc Möllmann, beim Jugendsender aus dem Norden Teamleiter Musik, glaubt, dass das Interesse an den offiziellen Charts bei jüngeren Programmen in den vergangenen Jahren nachgelassen habe. "Die deutschen Top 100 im Radio zu spielen, ist im Streaming-Zeitalter nicht mehr so effektiv wie vor 20 Jahren und emotionalisiert die Hörer*innen nicht ausreichend." Daraus will er aber keine generelle Abkehr von Chartformaten schließen. "Dass Charts im Hörfunk – im richtigen Kontext, wie beispielsweise als On-Air-Events - grundsätzlich weiterhin funktionieren können, zeigen große Programmaktionen anderer Sender wie die „SWR1 Hitparade“ oder die „WDR 4 Top 444“, bei denen das Publikum über seine Lieblingssongs abstimmen und bei der Ausstrahlung mitfiebern kann", sagt er. Sind Eventprogrammierungen also die Zukunft von Chartshows im Radio?
Die deutschen Top 100 im Radio zu spielen, ist im Streaming-Zeitalter nicht mehr so effektiv wie vor 20 Jahren und emotionalisiert die Hörer*innen nicht ausreichend. Marc Möllmann, Teamleiter Musik bei N-Joy

Tech glaubt: "Es stimmt zwar nicht, dass Radio ein jüngeres Publikum nicht mehr erreicht, aber doch mit einigen Programmpunkten und Spezialsendungen nicht mehr. Und dazu gehört auch die Chartshow." Das hat seiner Meinung auch mit neuer Konkurrenz zu tun. "Die 'Toptitel der Woche' werden nun von Spotify und anderen kuratiert, das heißt vorgefertigt als Playlist angeboten, die ich jederzeit hören kann. Ich muss also nicht warten, bis der Radiosender sie ausstrahlt." Da Radio auch nicht mehr unbedingt zum Entdecken neuer Musik herangezogen werde, "ist der strategische Bedarf, eine Chartshow für die Hörer anzubieten, deutlich gesunken – auch, da die Popradios nicht mehr als 'Einschaltprogramme' wahrgenommen werden." Die Sender, die heute noch Chartshows anbieten, würden seiner Meinung nach eine eher nostalgisch orientierte Hörerschaft bedienen.
Für junge Menschen können die Charts am Beginn der Leidenschaft für Pop-Musik stehen. Wolfgang Kerber, Bayern 3-Musikredaktion


All das mag auch dazu geführt haben, dass selbst eine der über die Jahre am besten gepflegten Chartshows im deutschsprachigen Raum, die "Ö3-Austria-Top 40" längst nicht mehr sonntags ab 16 Uhr zu hören sind, sondern deutlich versteckter am späten Dienstagabend erst ab 22 Uhr. Einen generellen Absang auf Radiocharts will niemand singen, auch nicht Yvonne Malak, die für mehrere Sender als (Strategie-)Beraterin tätig ist. Auch sie verweist, ähnlich wie Tech, auf das große Radio-Chart-Vorbild aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Charts können bei Imageoptimierung helfen

Mitte kommender Woche werden die neuen Radio-Quoten veröffentlicht. Für Radioverantwortliche sind die Zahlen entweder Bestätigung oder Anlass für Veränderungen. In Zeiten, in denen Radio immer neue digitale Konkurrenz bekommt, stellen sich der Gattung zahlreiche Fragen. Wie muss mein Programmmix aussehen? Funktionieren die über Jahre verwendeten Major Promos noch? Wo finde ich Nachwuchs für's Team und nicht zuletzt: Wie sicher sind bisherige Finanzierungsmodelle? Über all diese Fragen hat DWDL.de mit Entscheidern quer durch die Republik gesprochen. Die Antworten: Diese Woche in unserer Themenwoche. Unsere Themenwoche Radio
Nicht ganz so viel Sinn sieht Malak indes darin, nationale oder internationale Airplay-Charts zu spielen - so wie es bisher bei N-Joy der Fall war. "Wenn Apache 207 in Berlin einen Airplay-Hit hat, weil drei Berliner Urban CHR Stationen ihn spielen, macht es für einen Hot AC Sender wenig Sinn, diesen in der Chartshow zu senden… gilt natürlich auch für Helene Fischer und alle anderen für den jeweiligen Sender unpassenden Musikstile."
"Auch wenn heute niemand mehr gebannt darauf wartet, wer in dieser Woche wohl Platz 1 gemacht hat und auch niemand mehr mitschneidet und hofft, dass der Moderator nicht ins Songende reinquatscht, bleibt natürlich der Charme eines Rankings trotzdem erhalten", glaubt Daniel Lutz, der bei seiner Top 40-Show darauf achtet, als Radiosender "verlässlich" zu bleiben. "Wenn ich Radio X oder Y einschalte, sollte ich eine klare Vorstellung haben, was da läuft", sagt er, nicht ohne aber auch eine zweite Regel ins Spiel zu bringen. Weil ein Sender nicht langweilig sollte, dürfte die Chartsendung "natürlich" auch mal aus der Reihe tanzen.
Das müssen sie insbesondere dann, wenn die ermittelten Charts von der sonst oft engen Playlist abweichen. "Deutschsprachige Rap-Songs sind schon seit Jahren dominant in den Single-Charts. Statt der vereinzelten Latin-Pop-Songs gibt es jetzt vereinzelte Afrobeats-Hits in den Charts. Die drei Schlager-Hits aus dem Nicht-mehr-so-Pandemie-Sommer 2022 waren (hoffentlich) diesem geschuldet", hat Wolfgang Kerber beobachtet. Was die offiziellen Verkaufschart zusätzlich unterhaltsam mache, sei ein in 2022 fast neues Phänomen, das wohl häufiger passieren dürfte in Zukunft, wie Kerber glaubt: "Alte Songs, die wieder oder erstmals in den Charts sind" - "Another Love" von Tom Odell, "Mockingbird" von Eminem, "House Of Memories" von Panic! At The Disco etwa. Das wird dann auch die schon älteren Zuhörenden freuen.
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