Melanie Lidsba © NDR/Hendrik Lüders Melanie Lidsba
Für ältere Generationen sind sie eine schöne Erinnerung, für jüngere Generationen möglicherweise verzichtbar und daher für Radiomacherinnen und -macher durchaus ein Programmelement, über das diskutiert wird: Chartshows. Die Zeiten, in denen zahlreiche Stationen offizielle Verkaufs- oder Airplay-Charts sendeten, sind jedenfalls vorbei. Jüngst etwa hat der zum NDR gehörende Jugendsender N-Joy die sonntagmorgendliche Ausstrahlung seiner Airplay-Chartshow beendet. Man habe sich entschieden, sich "von diesem starren Format" zu trennen, sagt Programmchefin Melanie Lidsba.



Marc Möllmann, beim Jugendsender aus dem Norden Teamleiter Musik, glaubt, dass das Interesse an den offiziellen Charts bei jüngeren Programmen in den vergangenen Jahren nachgelassen habe. "Die deutschen Top 100 im Radio zu spielen, ist im Streaming-Zeitalter nicht mehr so effektiv wie vor 20 Jahren und emotionalisiert die Hörer*innen nicht ausreichend." Daraus will er aber keine generelle Abkehr von Chartformaten schließen. "Dass Charts im Hörfunk – im richtigen Kontext, wie beispielsweise als On-Air-Events - grundsätzlich weiterhin funktionieren können, zeigen große Programmaktionen anderer Sender wie die „SWR1 Hitparade“ oder die „WDR 4 Top 444“, bei denen das Publikum über seine Lieblingssongs abstimmen und bei der Ausstrahlung mitfiebern kann", sagt er. Sind Eventprogrammierungen also die Zukunft von Chartshows im Radio?

 

Die deutschen Top 100 im Radio zu spielen, ist im Streaming-Zeitalter nicht mehr so effektiv wie vor 20 Jahren und emotionalisiert die Hörer*innen nicht ausreichend. Marc Möllmann, Teamleiter Musik bei N-Joy


Wolfram Tech © BCI / Midhat Mulabdic Wolfram Tech
Auch Wolfram Tech, Chef der Firma BCI, die zahlreiche Stationen berät, hat eine Veränderung festgestellt. Einst seien Chartsendungen noch Kultshows gewesen. "Die waren die Grundlage für so mache Mix-Tapes, die später auf dem Schulhof kopiert weitergegeben wurden. Damals gab es noch keine einheitlich in eine Musikrichtung programmierte Sender und die öffentlich-rechtlichen Sender schufen mit diesen Sendungen einen Magneten für gerade junge oder jüngere Hörer – oft angelehnt an die legendäre 'American Top 40' Show von Casy Kasem." Doch der Kultstatus habe eben nachgelassen, die Radiolandschaft segmentierte sich, Musikformate und Rotationen wurden enger. "Die meisten Hits der Charts wurden bei vielen Sendern bis zu 5 Mal pro Tag gespielt, eine Rangfolge gab den Moderatoren dann aber die Möglichkeit, diese Musik einmal auf eine etwas andere Art zu moderieren: mit Platzierung und das ein oder andere Mal mit Stories oder Infos zu Titel oder Interpret."

Tech glaubt: "Es stimmt zwar nicht, dass Radio ein jüngeres Publikum nicht mehr erreicht, aber doch mit einigen Programmpunkten und Spezialsendungen nicht mehr. Und dazu gehört auch die Chartshow." Das hat seiner Meinung auch mit neuer Konkurrenz zu tun. "Die 'Toptitel der Woche' werden nun von Spotify und anderen kuratiert, das heißt vorgefertigt als Playlist angeboten, die ich jederzeit hören kann. Ich muss also nicht warten, bis der Radiosender sie ausstrahlt." Da Radio auch nicht mehr unbedingt zum Entdecken neuer Musik herangezogen werde, "ist der strategische Bedarf, eine Chartshow für die Hörer anzubieten, deutlich gesunken – auch, da die Popradios nicht mehr als 'Einschaltprogramme' wahrgenommen werden." Die Sender, die heute noch Chartshows anbieten, würden seiner Meinung nach eine eher nostalgisch orientierte Hörerschaft bedienen.

 

Für junge Menschen können die Charts am Beginn der Leidenschaft für Pop-Musik stehen. Wolfgang Kerber, Bayern 3-Musikredaktion

 

Bayern 3 © BR
Im Süden der Republik hält Bayern 3 indes weiterhin an seinem Kult-Chartformat fest. Was früher "Schlager der Woche" hieß, läuft heute freitags ab 19 Uhr als "Bayern 3 Chartshow", fällt im Programm nun aber kürzer aus, weil die gespielten Titel auch kürzer sind, wie der zuständige Musikredakteur Wolfgang Kerber erklärt. Eine Chartshow im Programm zu haben, empfindet er für einen Sender, der für aktuelle Hits stehe, weiterhin als wichtig. "Für junge Menschen können die Charts am Beginn der Leidenschaft für Pop-Musik stehen. Der Mensch hat gerne Ordnung, das zeigt das Interesse für Ranglisten. Hinzu kommt der Wettbewerbs-Gedanke: Das Internet ist ja voll von Top 7 oder Top 25 oder Top 33 von Was-auch-immer. Die Stars von heute schreiben auch immer wieder mal die "Bayern 3 Chart-Geschichte neu, Rekorde werden gebrochen, die Top 25 bleiben unterhaltsam."

Daniel Lutz © Antenne Bayern Daniel Lutz
Auch die direkte Konkurrenz in Bayern 3, Antenne Bayern, sendet seit knapp drei Jahren wieder wöchentliche Charts – am späten Samstagnachmittag, wohl wissend, dass Chartshows nach Ansicht von Programmdirektor Daniel Lutz nicht mehr den gleichen Stellenwert wie vor zehn Jahren haben. "Wenn man vielleicht sogar noch ein paar Jahre weiter zurückgeht, wird noch deutlicher, dass wir Radiosender den Stellenwert und auch das Privileg verloren haben, Musik schneller zu entdecken als unsere Hörer", glaubt Lutz. "Das Release Radar unserer Hörer tickt heute genauso schnell wie unseres. Eine Chartshow muss deshalb heute auf Augenhöhe mit dem Hörer sein. Der kennt den Song, den wir spielen, vielleicht auch schon." Musikinsidern, sagt der Radioprofi, könne man nichts mehr vormachen.



All das mag auch dazu geführt haben, dass selbst eine der über die Jahre am besten gepflegten Chartshows im deutschsprachigen Raum, die "Ö3-Austria-Top 40" längst nicht mehr sonntags ab 16 Uhr zu hören sind, sondern deutlich versteckter am späten Dienstagabend erst ab 22 Uhr. Einen generellen Absang auf Radiocharts will niemand singen, auch nicht Yvonne Malak, die für mehrere Sender als (Strategie-)Beraterin tätig ist. Auch sie verweist, ähnlich wie Tech, auf das große Radio-Chart-Vorbild aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Charts können bei Imageoptimierung helfen

Yvonne Malak © Lydia Rech Yvonne Malak
"Eine der erfolgreichsten Radiosendungen der Welt mit Ausstrahlungen von Kansas bis Kairo, von Boston bis Bejing – auf mehr als 500 Radiostationen weltweit – sind die 'American Top 40 mit Ryan Seacrest*," sagt sie. Diese Show entstand einst in den 70ern und kann ein Vorbild für alle anderen Charts sein. "Gut gemachte Countdown-Shows haben einen Spannungsbogen und tun im besten Falle etwas für das Senderimage", ist sie überzeugt. Beherzige man den Grundsatz, dass alles, was man sende, das Image bestimme, "macht eine Chartshow auf einem Hit-basierten Sender in Sachen Image-Optimierung viel Sinn."

Unsere Themenwoche Radio

  • Mitte kommender Woche werden die neuen Radio-Quoten veröffentlicht. Für Radioverantwortliche sind die Zahlen entweder Bestätigung oder Anlass für Veränderungen. In Zeiten, in denen Radio immer neue digitale Konkurrenz bekommt, stellen sich der Gattung zahlreiche Fragen. Wie muss mein Programmmix aussehen? Funktionieren die über Jahre verwendeten Major Promos noch? Wo finde ich Nachwuchs für's Team und nicht zuletzt: Wie sicher sind bisherige Finanzierungsmodelle? Über all diese Fragen hat DWDL.de mit Entscheidern quer durch die Republik gesprochen. Die Antworten: Diese Woche in unserer Themenwoche.

 

Nicht ganz so viel Sinn sieht Malak indes darin, nationale oder internationale Airplay-Charts zu spielen - so wie es bisher bei N-Joy der Fall war. "Wenn Apache 207 in Berlin einen Airplay-Hit hat, weil drei Berliner Urban CHR Stationen ihn spielen, macht es für einen Hot AC Sender wenig Sinn, diesen in der Chartshow zu senden… gilt natürlich auch für Helene Fischer und alle anderen für den jeweiligen Sender unpassenden Musikstile."

 

"Auch wenn heute niemand mehr gebannt darauf wartet, wer in dieser Woche wohl Platz 1 gemacht hat und auch niemand mehr mitschneidet und hofft, dass der Moderator nicht ins Songende reinquatscht, bleibt natürlich der Charme eines Rankings trotzdem erhalten", glaubt Daniel Lutz, der bei seiner Top 40-Show darauf achtet, als Radiosender "verlässlich" zu bleiben. "Wenn ich Radio X oder Y einschalte, sollte ich eine klare Vorstellung haben, was da läuft", sagt er, nicht ohne aber auch eine zweite Regel ins Spiel zu bringen. Weil ein Sender nicht langweilig sollte, dürfte die Chartsendung "natürlich" auch mal aus der Reihe tanzen. 

Das müssen sie insbesondere dann, wenn die ermittelten Charts von der sonst oft engen Playlist abweichen. "Deutschsprachige Rap-Songs sind schon seit Jahren dominant in den Single-Charts. Statt der vereinzelten Latin-Pop-Songs gibt es jetzt vereinzelte Afrobeats-Hits in den Charts. Die drei Schlager-Hits aus dem Nicht-mehr-so-Pandemie-Sommer 2022 waren (hoffentlich) diesem geschuldet", hat Wolfgang Kerber beobachtet. Was die offiziellen Verkaufschart zusätzlich unterhaltsam mache, sei ein in 2022 fast neues Phänomen, das wohl häufiger passieren dürfte in Zukunft, wie Kerber glaubt: "Alte Songs, die wieder oder erstmals in den Charts sind" - "Another Love" von Tom Odell, "Mockingbird" von Eminem, "House Of Memories" von Panic! At The Disco etwa. Das wird dann auch die schon älteren Zuhörenden freuen.

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